Die Kellnerin musterte ihn mit einem abschätzenden Blick, mit dem Frauen ihn häufiger ansahen. Sie war sehr jung und ziemlich hübsch und hatte ein Tattoo am linken Oberarm.
„Alles okay soweit?“ fragte sie.
Statt einer Antwort nickte er und brummte etwas, das wie ein „Ja, ja“ klingen sollte. Nachdem er auch den zweiten Wodka geleert und diesmal die kalt-wärmende Wohltat etwas ausgiebiger genossen hatte, begab er sich zur Toilette. Im Spiegel des Waschraums inspizierte er sich erneut – und spürte einen leisen Schock. Er sah doch schlimmer aus, als es eben noch im matten Schaufensterglas geschienen hatte.
Das Auge würde sich bald bunt färben. Sein Gesicht wirkte hohl und fahl. Auf dem Hemd befanden sich Blutspritzer. Er zog es aus und behielt nur das T-Shirt an, eine Aufmachung, die nach seinem und erst recht Hannas Geschmack normalerweise indiskutabel war. Mit Rücksicht auf gewisse Konventionen pflegte er sich damit zu begnügen, auf eher diskrete Weise stolz zu sein auf seinen trainierten Körper, dessen obere Hälfte sich jetzt unter dem engen Textil abzeichnete und für dessen Zustand er einiges an Zeit und Schweiß aufwandte, wenn auch nicht mit jener Konsequenz, die den Verzicht auf Zigaretten und die gar nicht so seltenen alkoholische Exzesse eingeschlossen hätte. Er glaubte das alles unter Kontrolle zu haben. Für jede Sünde verordnete er sich die angemessene Strafe in seinem Fitnessraum. Mit dem Hemd in der Hand starrte er in sein Gesicht und nannte sich stumm einen eitlen, gedankenlosen Narren. Dann hob er den Deckel des Abfalleimers unter dem Waschbecken, stopfte das Hemd hinein und zog sein Jackett über. Er spürte einen leichten Schwindel und lehnte sich kurz gegen die Wand.
An der Theke fragte er nach einem Telefon, und der Wirt, ein schwerer älterer Mann mit der eingefrorenen Miene eines Menschen, der viel gesehen hat, langte beiläufig und ohne seine Beschäftigung des Bierzapfens zu unterbrechen, nach unten, holte einen abgenutzten beigen Festnetzapparat mit Tasten hervor und schob ihn Max wortlos hin.
Er nahm ihn und ging so weit weg von der Theke, wie es die Schnurlänge zuließ. Im selben Augenblick, als er den Hörer abnahm, drängte sich die junge Serviererin von hinten an ihm vorbei und er legte wieder auf. Was wäre, wenn jemand hier mitbekäme, wie er sagen würde: „Ich möchte einen … Unfall melden … Ein Toter … und eine verletzte Frau. Mein Name? Der tut nichts zur Sache …“ – und dann einfach auflegte?
Er bestellte einen weiteren Wodka und ging zurück an seinen Platz, setzte sich aber doch nicht, sondern wandte sich zur Tür, um draußen zu rauchen. Da fiel ihm ein, dass er sich dringend neue Zigaretten und Feuer besorgen musste, und er ging abermals zur Theke. Die Kellnerin lud gerade Gläser auf ein Tablett. Mit schrägem Blick und einer kleinen Ironie in der Stimme fragte sie ihn, ob er ein Problem habe und sie ihm irgendwie helfen könne.
„Ein Problem? Sehe ich etwa so aus?“, brachte er hervor.
„Ehrlich gesagt, ja“, konstatierte sie.
Er drückte ihr Geld in die Hand und bat sie, ihm eine Schachtel von seiner Marke und Streichhölzer zu bringen, ging vor die Tür, ließ sich von jemandem Feuer für seine vorletzte, halb zerdrückte Zigarette geben, rauchte in hastigen Zügen und sagte sich, dass er endlich aufhören müsse, sich so konfus zu verhalten. Er schnippte die Kippe zu Boden, zertrat sie mit dem Absatz, ging wieder hinein, setzte sich an seinen Tisch, trank in kleinen Schlucken sein Glas aus, und versuchte seine Gedanken zu ordnen.
Es war ja überhaupt nicht sicher, dass es tatsächlich sein Schlag gewesen war, der den Mann getötet hatte. Vielleicht war er nur unglücklich gestürzt. Außerdem hatte es sich doch wohl eindeutig um eine Art Notwehrsituation gehandelt, in der es darum gegangen war, eine Frau vor einem brutalen Angreifer zu beschützen – wenn das kein ehrenwertes Motiv war. Er sah das jetzt alles wieder deutlich vor sich, jedoch in einem völlig anderen Licht. Wurde nicht allenthalben beklagt, dass die Gewalt auf den Straßen im öffentlichen Raum immer mehr überhand nehme und zu wenig dagegen unternommen werde? Ständig hörte und las man doch von Schlägern, die wehrlose Passanten traktierten, ohne dass diesen jemand zur Hilfe kam. Nun, er hatte nicht feige weg geschaut, wie die meisten, sondern sich mutig eingemischt und sogar einiges riskiert und dafür Verletzungen eingesteckt. Objektiv gesehen hätte er sich ohne weiteres als Held fühlen können, als jemand mit Zivilcourage. Zivilcourage, ja, das war es, er hatte Zivilcourage bewiesen.
Subjektiv sah die Sache jedoch erheblich anders aus. Das, was er getan hatte, passte ganz einfach nicht zu ihm. Was hatte ein Mann, der in einer der teuersten Gegenden der Stadt mit einer reichen Frau in einer repräsentativen Jugendstilvilla wohnte und dessen komfortables Leben sich zwischen Bücherwänden, Vernissagen, Konzertbesuchen und Theaterpremieren abspielte, sich nachts für irgendwelche fremden Frauen in dunklen Straßen zu schlagen? Ein Mann, der sich nicht nur sehr viel auf seine Kultiviertheit zugute hielt, sondern auch keine Gelegenheit ausließ, seine pazifistischen Prinzipien und seine Abscheu vor jeder Art von Gewalt zu propagieren, sodass es auf andere bisweilen schon leicht übertrieben anmutete? Und nun war ausgerechnet dieser Mann in einen Vorfall verwickelt, bei dem sogar jemand gewaltsam zu Tode gekommen war. Niemand in seinen Kreisen würde das verstehen, und am wenigsten Hanna.
Er sah sich in endlose Dispute mit ihr verstrickt, in denen sie ihn immer wieder fassungslos fragen würde, wieso um alles in der Welt er sich dazu habe hinreißen lassen können, jemanden tot zu schlagen. Genau so würde sie es ausdrücken. Hanna war in vielerlei Hinsicht großzügig, aber in dieser Hinsicht würde sie keine Gnade kennen, und alle guten Gründe, die der Polizei und der Justiz einleuchten mochten, würden in Hannas Augen nichts zählen. Immer wieder hatte sie ihm mehr oder minder offen zu verstehen gegeben, dass sie seinen physischen Ambitionen misstraute. Sie argwöhnte, dass es uneingestandene, rohe Absichten gebe hinter seinen Bemühungen, sich fit zu halten, vor allem hinter seinen Schlagübungen am Boxsack. „Übertriebene Körperlichkeit“, wie sie es nannte, war ihr grundsätzlich suspekt. Besonders verwerflich aber schien in ihren Augen zu sein, dass er sich seinen zweifelhaften Übungen auch noch in der Einsamkeit eines eigenen, höchst privaten, mit entsprechenden Geräten ausgestatteten Raums im Souterrain hingab. Wenn er wenigstens noch ein öffentliches Fitnessstudio aufgesucht hätte, wäre Hanna womöglich bereit gewesen, die Dinge in einem etwas milderen Licht zu sehen. Aber in letzter Zeit hatte er sich gelegentlich gefragt, ob bei ihrer diesbezüglichen Aversion nicht noch mehr und anderes im Spiel war. Es war Wochen her, dass sie miteinander geschlafen hatten. Es lief, wie man so sagte, schon seit geraumer Zeit nicht mehr gut mit ihnen beiden.
Der Gedanke, sie jetzt anzurufen, war ihm gar nicht in den Sinn gekommen. Die Tage, da sie einander Rechenschaft darüber abgelegt hatten, was der andere jeweils beabsichtigte oder tat, lagen weit zurück. Er wusste auch gar nicht, ob Hanna überhaupt zu Hause war. Sie hatten nur am Morgen ein paar Worte miteinander gewechselt. Es war eine geradezu absurde Vorstellung, ihr jetzt mitzuteilen, er sitze momentan in einem Lokal beim Wodka und denke verzweifelt darüber nach, wie er halbwegs heil aus einer höchst bedenklichen Zwangslage heraus kommen könne, in die er sich selbst hineinmanövriert hatte – und das durch ein Verhalten, das alle Vorurteile Hannas zu bestätigen schien. Der Gedanke, dass dies das Ende ihrer Ehe bedeuten könnte, war absolut realistisch, zumal die möglichen Bruchstellen ihrer Beziehung bereits in ihrer fragilen Konstruktion angelegt zu sein schienen.
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