Viele hatten seinerzeit, vor gut vier Jahren, nicht verstehen können, wie das denn wohl zusammenpassen sollte: Hanna, die junge, umschwärmte, geschäftstüchtige Erbin eines der größten und erfolgreichsten Bauunternehmen Berlins, und er, ein mittelloser, fünfzehn Jahre älterer Intellektueller, der außer seiner Bildung und seinem allgemein als präsentabel angesehenen Äußeren nichts vorzuweisen hatte, höchstens, wie er manchmal selbstironisch anzumerken pflegte, ein ausgeprägtes Talent zur materiellen Erfolglosigkeit. Aus eher bescheidenen Verhältnissen stammend, hatte er sich nach dem Studium, das er mit einer Promotion in Germanistik abgeschlossen hatte, all die Jahre mehr schlecht als recht als Autor von Zeitungs- und Magazinbeiträgen durchgeschlagen, sich auch an einem Roman versucht, der immer noch ungedruckt in irgendeiner Schublade lag, und sich im Lauf der Zeit schon damit abgefunden, dass ihm sowohl der Ehrgeiz als auch die Gabe fehlten, es im Leben noch sonderlich weit zu bringen.
Und dann war er Hanna begegnet, bei einer Ausstellung, von der sie sich sichtlich gelangweilt gefühlt hatte. Sie war es gewesen, die ihn angesprochen hatte. Danach war dann alles sehr schnell gegangen, fast etwas zu klischeehaft nach dem alten Muster der wechselseitigen Anziehungskraft von Gegensätzen, die sich vor allem im Sexuellen zeigte. Nach wenigen Tagen waren sie im Bett gelandet. Einige Monate später folgte dann schon die Hochzeit. Sie genossen den Ruf eines ungewöhnlichen und gerade deswegen interessanten Paars, das seine Attraktivität aus dem Kontrast zwischen seinem etwas scheuen, zerknitterten, nicht mehr ganz frischen virilen Charme und ihrer auf eine sehr solide, beinahe altmodische Weise hübschen Jugendlichkeit gewann. Dabei hatte sie, bei all ihrer konventionellen Coolness im Geschäftlichen, auch etwas Spielerisches an sich. Nichts hätte dies eindrücklicher demonstrieren können als ihr spontaner – und von einigen, womöglich auch von ihr selbst, später als ein wenig übereilt betrachteter – Entschluss, anlässlich der Eheschließung ihren traditionsreichen Elternnamen, Gruber, abzulegen und sich stattdessen fortan Ziegler zu nennen so wie er.
Später, als der erste Rausch verflogen war, hatte er gelegentlich gedacht, dass sich in dieser formalen Geste auch eine subtile Bestätigung ausdrückte für den Status, den er an ihrer Seite innehatte. In ihrer besitzergreifenden Großzügigkeit hatte sie ihm dieses kleine Entgegenkommen gewährt, um ihm umso mehr den Platz einer Trophäe, eines Dekorums für ihr saturiertes Dasein zuweisen zu können. Denn als genau das begann er sich in der Folgezeit mehr und mehr zu fühlen, was ja auch insofern nur zu berechtigt schien, als sie es war, die ihn aushielt. Er lebte von ihrem Geld und ihrem Reichtum. Und währenddessen lebten sie sich immer mehr auseinander.
So gut wie nichts, was er tat und womit er seine Zeit verbrachte, war Hanna recht. In den letzten Tagen hatte es jedes der seltenen Male, wenn sie aufeinandergetroffen waren, Streit gegeben. Er war bereits schlechter Stimmung gewesen, als er sich früher am Abend mit einigen Bekannten getroffen hatte, die Hanna ebenfalls nicht mochte, was allerdings auf Gegenseitigkeit beruhte. Wieland, Niklaus und Kohnen, mit denen er regelmäßig ausging und sich jeden Donnerstagabend zum Essen traf, hatten ihm mehr als einmal ohne Umschweife zu verstehen gegeben, dass er ihrer Ansicht nach – Geld und Wohlstand hin oder her – die falsche Frau geheiratet hatte. Das Essen war diesmal in jeder Hinsicht ein Reinfall gewesen. Kohnen, der große, wilde, erstaunlich teure Bilder malte, hatte in letzter Minute abgesagt, weil es Probleme mit der Vorbereitung einer Ausstellung gab. Die Unterhaltung mit Wieland und Niklaus hatte sich als ähnlich zäh erwiesen wie der enttäuschende Lammbraten. Wieder einmal ging es um Niklas und dessen Unfähigkeit, einen angemessen bezahlten Job als Feuilletonredakteur zu finden, was angesichts seiner Qualitäten trotz der wirtschaftlichen Misere der meisten Zeitungen möglich gewesen wäre, sofern er sich nicht derart hartnäckig gegen die Hilfsangebote Wielands gesträubt hätte. Wieland war früher als Verlagsmanager tätig gewesen und verfügte immer noch über beste Beziehungen, nachdem er sich, motiviert durch eine enorme Abfindung, frühzeitig zur Ruhe gesetzt hatte. Doch gegen Niklas' verqueren Stolz kam er, wie so oft schon, nicht an. Max hatte sich gelangweilt und sich später, nachdem sie auseinandergegangen waren, regelrecht deprimiert gefühlt. Und dann war er einfach losgegangen, ohne Ziel.
Wieder hatte er das Bild der Frau vor Augen, dann das, was plötzlich passiert war, sein eigenes, übertrieben hartes Agieren. Womöglich war in ihm allerlei aufgestaut gewesen, eine gehörige Portion an Ärger und Frustration, die sich in seinen Schlägen entladen hatte. Er bestellte noch einen Wodka, um diesen fatalen Gedanken hinunter zu spülen. Noch nie seit seinen Schulhofzeiten war er bisher je auf die Idee gekommen, sich zu schlagen, und das auch noch mit einer gewissen Befriedigung. Er merkte jetzt, dass der Alkohol Wirkung zeigte und ihn larmoyant machte. Aber er war noch nüchtern genug, um sich wieder an das Feuerzeug zu erinnern, an dieses verdammte goldene Ding, das er als Schlagverstärker umklammert hatte und das ihn, was noch schlimmer war, verraten konnte, weil es ein Indiz war. Er musste es auf jeden Fall finden und an sich bringen, und zwar sofort. Wenn er sich beeilte, war es anschließend immer noch früh genug, um die Polizei zu informieren.
Er bezahlte, gab ein viel zu hohes Trinkgeld, ohne die junge Kellnerin eines weiteren Blicks zu würdigen, und machte sich auf den Weg. Die ersten Meter ging er, dann fiel er in einen leichten Trab, schließlich rannte er, wie aufgeputscht durch den Alkohol und bald schweißnass und schwer atmend. Schon bog er in die dunkle Schledestraße ein, durchmaß eine leichte Kurve und hatte dann, gut hundert Meter entfernt, den Ort vor sich, an dem es geschehen war – den Tatort. Als er ihn erreicht hatte, stellte er zweierlei fest: Der tote Mann lag immer noch dort, wo er gelegen hatte. Aber die Frau war verschwunden.
Im ersten Moment glaubte er an eine Sinnestäuschung und fragte sich, ob er womöglich, verwirrt infolge seiner Bewusstlosigkeit und dann noch des Alkohols, nicht mehr imstande sei, die Wirklichkeit richtig wahrzunehmen. Doch Sekunden später sah er die Szene wieder deutlich vor sich. Es gab keinen Zweifel. Die Frau hatte dort gelegen, und jetzt lag sie dort nicht mehr.
Er hastete zurück und winkte an der übernächsten Kreuzung nach einem Taxi, von dem er sich nach Hause bringen ließ, hinunter an den südlichen Stadtrand, wo sich alles Städtische zwischen Wäldern und Wasserflächen verlor. Er hätte nichts dagegen gehabt, wenn die Fahrt noch weiter gegangen wäre, irgendwo hin, nur möglichst weit weg.
Er fand sich auf dem Sofa im kleineren der beiden Wohnräume im Erdgeschoss wieder, den sie als Salon bezeichneten, und fühlte sich miserabel. Die Vorhänge vor den großen Flügeltüren zur Terrasse waren zugezogen, aber nicht ganz geschlossen, sondern ließen einen ziemlich breiten Spalt frei, durch den sich eine Lichtbahn bis zum Sofa erstreckte und genau auf ihn mündete, der sich in voller Kleidung dort hin gestreckt hatte, nicht einmal die Schuhe hatte er mehr abgestreift. Es war nicht viel Scharfsinn notwendig, um zu dem Schluss zu gelangen, dass er einen wenig vorteilhaften Anblick bot.
Während er sich mit schwerem Schädel und schmerzendem Gesicht mühsam aufsetzte, dachte er, was Hanna wohl sagen würde, wenn sie ihn hier so anträfe. Der nächste Gedanke war keineswegs schöner, denn er besagte, dass sie ihn in diesem desolaten Zustand bereits vorgefunden haben musste und längst aus dem Haus war, denn dem Stand der Sonne nach musste es kurz nach Mittag sein. Halb zwei, schätzte er, und ein Blick auf die dunkle schmale Standuhr – ein Erbstück von Hannas Urgroßvater, das ihm angesichts seiner immer noch präzisen Zeitangaben wie ein wahres Wunderwerk vorkam – zeigte ihm, dass er sich nur um knappe fünf Minuten geirrt hatte.
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