Ben Worthmann
Tödlicher Besuch
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Titel Ben Worthmann Tödlicher Besuch Dieses ebook wurde erstellt bei
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Impressum neobooks
„Möchtest du noch etwas trinken? Mal einen Gin vielleicht oder doch lieber einen Kaffee?“
Sie nippte an ihrem Rotwein, schaute auf ihre Armbanduhr, nachdem sie das Glas auf dem flachen Couchtisch abgestellt hatte, und schüttelte den Kopf. Infolge der Bewegung schimmerten im matten Schein der Stehlampe ein paar kleine Lichtreflexe auf ihrem kinnlangen kastanienbraunen Haar.
„Danke, lass mal“, sagte sie mit ihrer Stimme, die fast etwas zu jung klang im Vergleich zu ihrem schmalen, ebenmäßigen Gesicht mit den winzigen Fältchen um Augen und Mund. „Es ist spät geworden, schon nach zwölf. Ich glaube, es wird langsam Zeit für mich.“
„Du willst also gehen?“
„Es ist besser. Jedenfalls heute. Bestellst du mir ein Taxi? Ich muss noch mal kurz verschwinden.“
Er nickte wortlos und hätte auf Anhieb kaum zu sagen gewusst, ob es wirklich Enttäuschung war, was er empfand. Oder doch, ja, im Grunde und bei ehrlicher Prüfung seiner selbst wusste er, dass es keine Enttäuschung war, sondern ihr Gegenteil, Erleichterung. Er hatte einen Fehler gemacht, und inzwischen fragte er sich, wieso er eigentlich auf den Gedanken hatte kommen können, diese Frau zu sich einzuladen, sie einfach zu fragen, ob sie noch mitkäme. So etwas war sonst ganz und gar nicht seine Art. Jedenfalls nicht mehr, seit sein Leben in neuen, geordneten Bahnen verlief, was ja nun mittlerweile seit etlichen Jahren der Fall war.
Ausgerechnet jetzt, kurz vor Annas Rückkehr, eine fremde Frau mit nach Hause zu nehmen, das war wirklich eine besonders schlechte Idee gewesen. Da half auch keine billige Ausrede wie etwa die, dass diese Frau es ihm aber auch verdammt leicht gemacht und nach nur kurzem, womöglich nicht einmal ganz ernst gemeintem Zögern eingewilligt hatte. Fast hatte es für ihn so ausgesehen, als habe sie nur darauf gewartet.
Doch dann, in den gut eineinhalb Stunden, seit sie in seinem Haus angekommen waren, war gar nichts weiter geschehen, außer dass sie miteinander geredet und einige Glas Wein getrunken hatten. Es hatte ihm gefallen, sich mit ihr zu unterhalten. Sie war lebhaft und vielseitig interessiert und konnte sich gut ausdrücken. Aber ihr Gespräch, bei dem es im wahrsten Sinn um Gott und die Welt gegangen war, beflügelt dann auch noch von den Wirkungen des Weins, war immer merkwürdig unpersönlich geblieben. Einige Male war sie aufgestanden, um die Bilder an den Wänden und die Bücherreihen in den beiden hohen Regalen zu betrachten, doch sie hatte nichts dazu gesagt, keine Fragen gestellt. Das hatte ihn insofern irritiert, als gerade seine Bilder zuvor in dem Lokal ein Thema gewesen waren, das sie besonders zu interessieren schien. Und letztlich hatte er sie sogar als Argument für seine Einladung benutzt, wenn auch eher beiläufig, da besonderer Nachdruck gar nicht notwendig gewesen war.
Auch zu dem Ensemble von Fotos und Zeitungsausschnitten, das hinter Glas über der kleinen Vitrine mit den Trophäen hing, hatte sie nichts gesagt. Doch das war ihm weniger befremdlich vorgekommen, da er davon ausging, dass sie damit ohnehin wenig anfangen konnte und es ihr vermutlich schwerfiel, sie in einen Zusammenhang mit ihm zu bringen. Bei der Gelegenheit war ihm wieder eingefallen, dass er all das Zeug am liebsten weggeworfen hätte, doch Anna beharrte darauf, dass auch dies zu seinem Leben gehörte und dass es falsch sei, bestimmte Kapitel davon auslöschen zu wollen.
Mehr und mehr war es ihm vorgekommen, als umgebe seine Besucherin eine Aura aus Unbefangenheit und freundlicher Unverbindlichkeit, sodass von ihr zeitweilig alles zu gewärtigen schien oder eben am Ende auch gar nichts. Und mochte auch anfangs einiges nach einem unausgesprochenen Arrangement für den Rest der Nacht ausgesehen haben – zumindest nach den gängigen Maßstäben -, so hatte es im weiteren Verlauf des Abends von ihrer Seite keinerlei noch so geringes Signal mehr gegeben, das auf erotische Abenteuerlust hätte schließen lassen.
Jetzt erhob sie sich vom Sofa, griff nach ihrer Handtasche, einem Beutel aus weichem dunklem Leder, blieb einen Moment lang vor ihm stehen und berührte kurz seine Schulter, während sich ihre Blicke trafen. Sie hatte große, sehr dunkle Augen, über deren Farbe er sich noch genauso wenig klar geworden war wie über ihr Alter, das irgendwo zwischen Ende zwanzig und Mitte dreißig liegen mochte. Und irgendetwas war in ihrem Blick, das nicht zu ihrem sonstigen Verhalten zu passen schien, eine Art Müdigkeit oder Resignation, wenn nicht gar ein Anflug von Angst.
Er sah ihr nach, als sie sich umwandte und in Richtung Diele ging, wo sich die Gästetoilette befand. Wieder, wie schon zuvor, als sie das Lokal verlassen hatten, fiel ihm ihr Gang auf, der an den einer Tänzerin erinnerte. Er hatte sich ihr mit vollem Namen vorgestellt, eher aus Gewohnheit als in der Erwartung, dass sie damit irgendetwas anfangen konnte. Sie hatte ihm nur ihren Vornamen genannt, Laura, und er fand, dass der gut zu ihr passte.
Sie war ziemlich hochgewachsen und sehr schlank, eine Frau, bei deren Anblick einem sofort das Adjektiv elegant einfiel, auch wenn ihre Kleidung nicht übertrieben wirkte, sondern eher dem aktuellen modischen Mainstream entsprach. Zu dem dunkelgrauen Wollkleid, das nur wenig länger als ein Pullover war, trug sie schwarze Leggins, die ihre Beine betonten, und wadenhohe Stiefel, deren Absätze bei jedem Schritt auf dem Parkettboden ein klackendes Geräusch verursachten. Ihr Mantel aus hellgrauem Kunstfell lag noch immer über einem der Sessel.
Als er gerade zum Telefon greifen wollte, um das Taxi zu rufen, schrillte die Türglocke und ließ ihn zusammenzucken. Welchen Grund konnte es für unangemeldeten Besuch um diese Uhrzeit geben? Anna war mit der Kleinen für ein paar Tage zu ihrer kranken Mutter gefahren und wollte dort über das Wochenende bleiben. Sie telefonierten täglich, und dass sie mitten in der Nacht plötzlich vor der Tür stehen könnte, war praktisch ausgeschlossen. Zwar war es in letzter Zeit nicht immer so gut zwischen ihnen gelaufen, aber er hatte ihr nie irgendeinen Anlass für Misstrauen geliefert, allenfalls für ebenso besorgte wie liebevolle Mahnungen, er solle mehr auf sich achten. Immer war sie so besorgt um ihn, war es von Anfang an gewesen. Plötzlich spürte er heftige Gewissensbisse bei dem Gedanken an sie und an den Leichtsinn, zu dem er sich an diesem Abend hatte hinreißen lassen, auch wenn zum Glück nichts wirklich Verwerfliches passiert war.
Er überlegte kurz und ergebnislos, wer sonst um diese Zeit einen triftigen Grund für einen nächtlichen Besuch haben könnte. Und dabei spürte er, wie ein ungutes Gefühl in ihm aufstieg. Enge Bekannte oder Freunde hatten sie auch noch nicht gefunden, seit sie erst vor einigen Monaten hierher gezogen waren, sodass auch diese Möglichkeit ausschied.
Mit einem widerwilligen Seufzer stemmte er sich aus dem Sessel hoch. Er war noch nicht ganz an der Haustür, als es erneut klingelte. Vorsichtig öffnete er, nahm noch den Schwall kalt-feuchter Novemberluft wahr - und konnte im nächsten Moment nur noch einen letzten halbwegs klaren Gedanken fassen, nämlich den, dass er soeben einen weiteren Fehler gemacht hatte, und zwar einen noch weit schwereren als den ersten.
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