Wer die Macht hat, der hat auch das Recht. Dieser Satz kommt Richard immer wieder in den Sinn, seitdem er selbst damit konfrontiert wird, dass der Braunkohlentagebau hemmungslos gegen Grundrechte verstoßen kann, ohne deswegen zur Rechenschaft gezogen zu werden. Im Gegenteil, die Rechtsprechung segnet ab, was Wirtschaft und Politik hier wegen des sogenannten Bodenschatzes Braunkohle anrichten und nimmt den Menschen ihren Rechtsschutz. Für Richard und viele andere ist es ein Skandal, den es sonst nur in menschenverachtenden Regimes gibt. Ohnmächtig muss er die von deutschen Gerichten vertretene Ansicht akzeptieren, dass die Rechte der vom Tagebau Betroffenen und die Umweltproblematik nachrangig seien. Nachrangig, ein für Richard widerlich verharmlosendes Wort. In den Urteilen wird die Rechtmäßigkeit der Tagbaupläne mit dem Verweis auf ihre angeblich energiepolitische Notwendigkeit begründet. Alle Klagen gegen Braunkohlenpläne wurden abgeschmettert. Dabei stützten sich die Urteile auf das vom Preußischen Berggesetz abgeleitete Bundesberggesetz. Richter brachen auf diese Weise Menschenrechte, um dem Tagebau grünes Licht zu geben und die fatalen Folgen für die Betroffenen zu legalisieren. In welchen Niederungen des Ungeistes das Bundesberggesetz wurzelt, belegen viele der dort paragrafierten Regelungen, die sich auf abgefeimte Gesetzesnovellen stützen, die 1935 während der nationalsozialistischen Diktatur im Energiewirtschaftsgesetz das Eigentumsrecht aushebelten.
Für Richard ist es ein unglaublicher Skandal, dass heute noch das Bergrecht juristisch höher eingestuft wird, als das in der Verfassung verankerte Grundrecht, seinen Wohnsitz frei von staatlichen Zugriffen behalten zu dürfen. Diese alles andere als verfassungskonforme Unrechtsprechung fußt auf der haltlosen Behauptung, die Braunkohlenförderung diene dem Allgemeinwohl. In Wirklichkeit aber, und das ist für Richard eine juristische Perversion ohnegleichen, schädigt der Tagebau wegen seiner verheerenden sozialen, ökologischen und klimatischen Folgen massiv das Allgemeinwohl. An dieser Rechtsprechung ändert sich auch weiterhin nichts, obwohl wissenschaftliche Gutachten eindeutig belegt haben, dass es keine energiepolitische Notwendigkeit für den Braunkohlentagebau gibt, er weitaus mehr schadet als nutzt, unwirtschaftlich und technisch veraltet ist und von anderen Energieträgern ersetzt werden kann.
Die Gegner des Braunkohlentagebaus sind empört. Sie wissen Bescheid, können aber nur protestieren, ohne Aussicht auf Erfolg. Die rein betriebswirtschaftlichen Interessen der Tagebaubetreiber haben einen höheren Stellenwert als die von der Verfassung garantierten Grundrechte und der Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen. Das Bergrecht darf weiterhin Grundrechte brechen, obwohl es keine schwerwiegendere Beeinträchtigung des Allgemeinwohls als den Tagebau gibt. Katastrophal sind die Folgen für Mensch, Natur und Umwelt.
Es gibt unabhängige Wissenschaftler, die derart besorgt und empört sind, dass sie angesichts dramatischer Umweltzerstörungen den Braunkohlentagebau nicht mehr kritisieren, sondern aufs Schärfste verurteilen. Die weder von Gesetzen noch Gutachten zu stoppende Nutzung der Braunkohle ist für sie wegen des alarmierenden Klimawandels ein ungeheuerliches, nicht mehr wiedergutzumachendes Verbrechen an der Menschheit. Braunkohle ist ein Klimakiller.
«Starke Worte. Erfreulich starke Worte. Die Wahrheit, nackt und unverfälscht», sagt Martin Radke, der neben Richard in lockerem Trab durch den Aachener Stadtwald joggt. Nach einem heftigen Regenschauer fallen noch Tropfen von den nassen Blättern. Durch die Baumkronen zeigt sich wieder blauer Himmel.
«Wenn seriöse Wissenschaftler den Tagebau derart verurteilen, müsste das schon sein Ende sein», meint Richard, langsamer laufend, um mehr Luft zum Sprechen zu haben. Sein Körper wirkt zwar sportlicher, aber er läuft schwerer als Martin, unter dessen T-Shirt sich ein Bauch noch dezent vorwölbt.
«Müsste. Aber nicht machbar. Dafür ist die altbewährte Koalition von Wirtschaft und Politik zu stark.»
«Ist eine Schweinerei», sagt Richard, sich mit der Hand über die schweißnasse Stirn wischend.
«Ist es.»
«Ich bekomme es einfach nicht aus dem Kopf. Schon ein Wiederholungszwang.»
«Wiederholungszwang? Na ja, nenn’s besser Bewältigungsversuch», sagt Martin. Er blickt zu Richard, der jetzt mit gesenktem Kopf und offenem Mund läuft, schwer zu atmen beginnt. «Angesichts der Tatsachen ein ganz normales Verhalten in einer anormalen Situation. Rede dir jetzt keinen Wiederholungszwang ein. Du bist doch schon ziemlich gelassen.»
«Aber noch nicht gelassen genug. Ich muss es besser ausblenden», sagt Richard.
«Nicht so einfach», meint Martin.
«Ach, lass uns lieber nicht mehr darüber reden», sagt Richard. «Sonst verkrampfe ich noch.»
«Entspann dich und genieße es, hier zu laufen«, sagt Martin. Er zieht die Luft hörbar tief durch die Nase ein. «Wie der Wald nach dem Regen duftet! Köstlich, mein Lieblingsparfüm.»
Richard merkt, dass ihn heute Nachmittag das Laufen mehr anstrengt als sonst. Er wundert sich, er müsste doch besser in Form sein. Nach diesem schönen Wochenende mit Birgit. Der Braunkohlenterror scheint doch mehr an ihm zu zehren, als ihm lieb ist. Zu oft muss er daran denken. Als wären es geistige Widerhaken, von denen er sich nicht befreien kann.
Sie überholen ein junges Paar, das sich Händchen haltend auf dem zwischen Buchen verlaufenden Waldweg einer Bank nähert. Ein Eichelhäher stößt Warnrufe aus. Sonnenstrahlen werden vom dichten Laubwerk abgeschirmt, sie gelangen, sich zerstreuend, nur bis zu den Baumkronen, zwischen denen Flecken mit blauem Himmel zu sehen sind. Wenige Meter vom Weg entfernt wächst roter Fingerhut, der in einem langen, schmalen Streifen hinter Farnen hochragt. Dieses Waldstück hat für Richard etwas Märchenhaftes. Wie aus einem Bilderbuch. Er sieht so lange dorthin, wie es in seinem Blickfeld bleibt. Er atmet die würzige, noch regenfeuchte Luft tief ein. Ein belebender Naturduft, aber sicherlich nicht sein Lieblingsparfüm. Das verströmt jetzt Birgit. Wenn sie nackt ist, duftet sie betörend, vor allem im Schulter-Nacken-Bereich. Morgen wird er wieder bei ihr sein. Gut, dass er sie hat. Und Martin.
Richard überspringt eine Pfütze mit breitmatschigen Rändern. Er sieht zu Martin, der noch erstaunlich leichtfüßig neben ihm läuft und ganz entspannt aussieht. Sein Hemd klebt schweißnass an seinem Körper, dessen übergewichtige Rundungen sich jetzt stärker abzeichnen. Er isst zu gern. Sein größtes Problem sind seine überflüssigen Pfunde, gegen die er bislang wenig erfolgreich mit Sport anzukämpfen versucht. Zwei bis dreimal pro Woche joggen sie beide durch den Aachener Stadtwald. Das ist für ihn sinnvoller als jede Diät, die er nur als Folter empfinden und schon nach wenigen Tagen abbrechen würde. Auch wenn er es nicht schafft, abzunehmen, nur kurzfristig Pfunde verliert, verbrennt er beim Joggen so viele Kalorien, dass er, wie er meint, sein Gewicht recht gut in Schach hält.
Seit ihrer Schulzeit sind sie miteinander befreundet. Beinahe wäre Martin auch Richards Schwager geworden. Seine sieben Jahre jüngere, ihm in vielem ähnliche Schwester und Richard hatten sich ineinander verliebt und in ihrem Gefühlstaumel eingebildet, füreinander geschaffen zu sein. Sie hatten sich schon darin verrannt, das mit einer Heirat zu besiegeln. Ein explosiver Streit jedoch, der sich erst an ihren unterschiedlichen Vorstellungen zur Familienplanung entzündete, dann starke Zweifel aufflammen ließ, Illusionen zerstörte, beendete alle Hochzeitsvorbereitungen und ihre Liebesepisode.
Martin bedauert es noch immer, meint, dass alles hätte ganz anders kommen können, wenn sie damals nicht ebenso stolz wie töricht gewesen wären, sich nicht wie zwei Sensibelchen verhalten hätten, die sich narzisstisch gekränkt fühlten. Für Richard jedoch war es die plötzliche Einsicht in trennende Gegensätze, die ihren Bruch verursachte. Es war eine überhitzte Liebesillusion, die nach acht Monaten erkaltete. Richard hat Gundula, die seit neun Jahren mit Mann und zwei Kindern in Hamburg lebt, ins Archiv der Erinnerung eingeordnet. Für Martin ist seine Schwester noch immer ein Problem, das ihm zu schaffen macht. Ihre frühere innige Beziehung ist stark abgekühlt, was er als großen Verlust empfindet und als willkürliche Abgrenzungsmaßnahme von ihr zu erklären versucht.
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