Hartwig Weber · Sor Sara Sierra Jaramillo
Bildung gegen den Strich
Lebensort Straße
als pädagogische Herausforderung
Vorwort
1 Verschenkt, missbraucht, vergessen: Mädchen im Straßenmilieu
2 Babystrich – Kinderprostitution
Ein kleiner Platz im Zentrum der Stadt
Ausgegrenzte Zonen, unsichtbare Grenzen
Prostitution, stigmatisierter Raum
Kinderprostitution, tabuisiert
3 Kindermütter: Kinder, die Kinder bekommen
Immer mehr schwangere Mädchen
Gründe und Folgen
4 Flüchtlingskinder
5 Kriegskinder – Kindersoldaten
6 Was ist das – ein »Straßenkind«?
Lebensmittelpunkt Straße: Kolumbianische Verhältnisse
»Kind« und »Straße«. Definitionsversuche
Straßenjugendliche in Deutschland
»Malunde« in Südafrika
Mädchen in Indien, an den Rand gedrängt
7 Verstoßene Kinder: Historische Streiflichter
Geschichte der Kindheit, ein Alptraum
Bettelkinder, Vorläufer der Straßenkinder
Rettung durch Zucht: Sorge um verlassene Kinder
»Bastarde von geringem menschlichem Wert«: Kolumbianische Straßenkinder in der Geschichte
8 Hintergründe
Armut, Exklusion
Globalisierter Kapitalismus
9 Kinderrechte – Bildung als Weg in die Zukunft
10 Patio 13 –Schule für Straßenkinder
11 Straßenpädagogik
Selbstvertrauen, persönliche Ressourcen
Verwirklichungschancen
Was charakterisiert Straßenpädagogik?
Menschliche Wesensmerkmale
Wozu befähigt Straßenpädagogik?
12 Straßenpädagogische Methoden
Alltag, Erfahrungsraum, Lerninhalt
Ethnographische Haltung
Lebensgeschichten erkunden
Fragen richtig stellen
Straßenprojekte: Lebensdienliche Bildungsangebote
Orientierung an Tun und Handeln
13 Erkunden, festhalten, weitergeben: Die Methode der Fotoethnographie
14 Wer bin ich? Wohin gehe ich? Ein Straßenprojekt mit schwangeren Teenagern und Kindermüttern
Die Problemlage
Peer Education: Jugendliche begegnen Jugendlichen
Das Projekt »Mein Lebensbuch«
Die Projektphasen
15 Postscriptum
Textnachweis
Ein kleiner Platz, mitten in einer lateinamerikanischen Millionenstadt. Tagsüber und bis in die Nacht hinein sieht man dort Scharen von Kindern, Mädchen, viele junge Erwachsene. Sie schlafen im Freien. Wenn sie genug verdient haben, 10 000 Pesos (etwa drei Euro), 30 000 Pesos (neun Euro) pro Freier, leisten sie sich ein Bett in einem heruntergekommenen Stundenhotel, wo sie sonst nur arbeiten. Manche Mädchen sind Mütter. Einige haben zwei, drei oder mehr Kinder. Meist werden ihnen die Kleinen weggenommen und irgendwo untergebracht, wenn sie Glück haben, bei der Großmutter oder bei einer Tante, meist aber in einem Waisenhaus. Fehlgeburten und Abtreibungen haben fast alle Mädchen hinter sich, und sie konsumieren unablässig Drogen.
Kindermütter auf dem Babystrich. Trotz enger Kleidchen, kurzer Röcke, kleiner Blüschen fallen sie neben den anderen Menschen auf der Straße kaum auf. Eine bunt zusammengewürfelte Schar. Schwangere Teenager, arbeitende Kinder, Flüchtlingskinder, ehemalige Kindersoldaten, Ausreißer aus paramilitärischen Gruppen und Guerillagruppen, geflohen vor Milizen und Jugendbanden. »Straßenkinder« trifft man an vielen Orten der Welt, nicht nur in den Metropolen Südamerikas, auch in Afrika, Asien, in Europa. Die Zahl der Mädchen im Kindesalter, die Kinder bekommen, nimmt weltweit zu.
Kinder, Jugendliche, junge Erwachsene auf der Straße leben innerhalb ihrer Gesellschaften, dennoch von ihnen getrennt, ausgeschlossen, weggeschoben, vergessen. Wer in diese nahe und doch so fremde Welt vordringen will, braucht Zeit, Geduld und Einfühlungsvermögen. Am Ende sieht er Schicksale und bekommt Lebensgeschichten zu hören, die ihm ein anderes, unbekanntes, befremdliches Dasein erschließen.
Beim Lesen dieses Buches folgen Sie einer Gruppe von Studenten, Jungen und Mädchen im Teenager-Alter, auf dem Weg durch die Straßen einer lateinamerikanischen Metropole, hinein in den Dschungel einer Millionenstadt, wo sie jungen Prostituierten, Schwangeren, Kindermüttern begegnen, Menschen im gleichen Alter wie sie selbst. Deren Alltag und Lebenslagen wollen sie kennenlernen. Was die Studenten antreibt, ist die Vorstellung, dass Kindern und Jugendlichen auf der Straße auf Dauer nur eines helfen kann: Bildung. Bildung als Chance, das eigene Leben, die eigenen Zukunftsperspektiven zu verändern. Aber bevor Pädagogik greifen kann, müssen Verständnis und Empathie für Lebenssituationen der Menschen auf der Straße, ihren Alltag, ihre Erfahrungen und Perspektiven wachsen.
Das erste Kapitel dieses Buches will Ihnen diese Welt erschließen: Sie können die Annäherung der Studenten nachvollziehen und so einen Einblick in das Schicksal und den Alltag junger Menschen auf der Straße, insbesondere von Kindermüttern, gewinnen.
Mit authentischen Dokumenten beleuchten die Kapitel 2 und 3 die Themen Kinderhandel, Kinderprostitution und Minderjährigenschwangerschaften – Phänomene, die sich in jüngster Zeit nicht nur in Lateinamerika, sondern weltweit ausbreiten. Kinder und Jugendliche der Straße sind häufig Vertriebene, viele stammen aus Flüchtlingsfamilien (davon handelt das vierte Kapitel). Wie in afrikanischen oder asiatischen Ländern, so trifft man auch in Südamerika obdachlose Jugendliche, die jahrelang als »Kindersoldaten« in paramilitärischen Gruppen oder Guerillagruppen, aggressiven Jugendcliquen oder Selbstverteidigungsbanden gelebt, gekämpft und dabei selbst getötet haben. Zahllose verlassene Kinder und Straßenjugendliche melden sich freiwillig bei illegalen Milizen, weil sie sich dort Auskommen, Ansehen und Macht versprechen. Davon ist im fünften Kapitel die Rede. Im Anschluss wird das weltweite Phänomen der obdachlosen Kinder behandelt, eine Erscheinung, die nicht nur für die Gegenwart typisch ist (Kapitel 6), sondern auch in vergangenen Jahrhunderten verbreitet war (Kapitel 7). Das achte Kapitel rundet das Gesamtbild durch Hintergrundinformationen zu den Themen Globalisierung, Armut und Exklusion ab.
Wer von Armen, Arbeitslosen, Flüchtlingen, Kindersoldaten oder Straßenkindern berichtet, kommt um Zahlen nicht herum. Auch in diesem Buch sind wir (hoffentlich nicht häufiger als nötig) der Versuchung erlegen, mit besonders großen Zahlen auf besonders gravierende Probleme aufmerksam zu machen. Dabei weiß jede/r, dass unsere Vorstellungskraft mit dem Anwachsen der Zahl von Fällen nicht Schritt hält. Erst recht gilt dies für unsere Empathiefähigkeit. Was uns bewegt, ist das einzelne Schicksal. Das Elend von Tausenden Ausgestoßener, Benachteiligter und Chancenloser hingegen überfordert uns leicht und macht uns ratlos. Diesem Umstand versuchen wir in diesem Buch dadurch gerecht zu werden, dass der Blick dort, wo das Lupensymbol auftaucht, immer wieder auf Ausschnitte gelenkt wird, auf einzelne Orte, einzelne Personen, einzelne Lebensgeschichten. Unterschiedliche Texte, Situationsschilderungen, Biographisches, Interviews, Tagebuchaufzeichnungen und vor allem auch zahlreiche Fotos laden dazu ein, sich konkreten Alltagssituationen auf der Straße zu nähern. Wo ohne nähere Spezifizierung von jungen Menschen im Straßenmilieu die Rede ist, haben die Verfasser südamerikanische Verhältnisse vor Augen. Der Leser, dem vergleichbare Lebenslagen in anderen Weltgegenden vertraut sind, wird seine eigenen Kenntnisse und Erfahrungen aus anderen Kulturen und Kontexte zu diesen Schilderungen ins Verhältnis setzen. Vielleicht kann die Begegnung mit einzelnen südamerikanischen Straßenbewohnern Verständnis, Empathie und Bewusstsein für das Problem als Ganzes – das sich weltweit ausbreitende Phänomen randständiger, vom Leben ihrer Gesellschaft ausgeschlossener junger Menschen – wecken und vertiefen.
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