Und die neuesten Zahlen? Im Jahr 2011 wurden über 19 000 Mädchen im Alter zwischen 15 und 19 Jahren Mutter. In den ersten vier Monaten des Jahres 2012 wurden bereits 9365 Geburten in dieser Altersgruppe registriert. »Das Problem der Minderjährigenschwangerschaften hat sich in Kolumbien zu einem gravierenden sozialen Problem entwickelt«, schreibt die Tageszeitung El Espectador. Es betrifft 19 Prozent der unter 19-Jährigen, aber 35 Prozent der Mädchen in den ärmsten Wohngegenden (estrato 1 y 2) (vgl. http://www.elespectador.com/noticias/bogota/articulo-367968-9365-nacimientos-jovenes-entre-los-15-y-19-anos). Nach Angaben von Dane (Departamento Administrativo Nacional Estadistica) wurden in der Hauptstadt Bogotá im Jahr 2011 456 Geburten von Mädchen zwischen zehn und 14 Jahren gezählt, im ersten Semester 2012 waren es bereits 250. Frühzeitige Schwangerschaften, so El Espectador, sind meist mit anderen Problemen verbunden – mit Misshandlung, sexuellem Missbrauch, Geschlechtskrankheiten, Abtreibung und Kindestod.
Eine konsequente Fortsetzung des Programms »Sol y luna« gibt es in Medellín nicht. Die Stadt hat sich das Vorhaben des Projekts nicht zu eigen gemacht und verfolgt die formulierten Ziele keineswegs mit Nachdruck. Die Mädchen, die zwischen El Prado und der Kathedrale der Prostitution nachgehen und schwanger werden, kennen weder ihre Rechte noch irgendwelche Institutionen, deren Aufgabe es ist, ihnen in ihrer Not zur Seite zu stehen. Die Mädchen finden den Weg dorthin nicht, und die Institutionen und Projekte denken offenbar nicht daran, sie dort aufzusuchen, wo sie sich aufhalten – auf der Straße.
Weitere Informationen über »Sol y luna«:
http://www.medellin.gov.co/irj/portal/ciudadanos?NavigationTarget= navurl://8d3b03c0e1c61a17a4c49c6c6254e4cd
http://www.medellin.gov.co/irj/go/km/docs/ wpccontent/Sites/Subportal%20del%20Ciudadano/Salud/Secciones/Plantillas%20Gen%C3%A9ricas/Documentos/2012/Revista%20Salud/Revista%20Vol.%205,%20suplemento%201/3.%20PROYECTO%20SOL%20Y%20LUNA.pdf
Die Gegend zwischen der Plazoleta Rojas Pinilla, El Prado und der großen Kirche ist ein quirliges Viertel. Unzählige gelbe Taxis, bunte Busse, klapprige Kleinlastwagen verstopfen die Straßen. Menschen hasten durch die engen Gassen, und auf der Avenida entlang der Metro stehen gegen Abend die fliegenden Händler mit Obst, Fisch, Fleisch und allen cachivaches (Kleinkram) der Welt dicht an dicht. Der Verkehrslärm bricht nie ab. Dieser Teil des Stadtzentrums scheint sich, äußerlich betrachtet, von den benachbarten Vierteln nicht zu unterscheiden. Und dennoch liegt zwischen der Plaza Botero und der Zone der Prostitution eine unsichtbare Grenze. Man sieht keinen Schlagbaum, keine Wächter, aber man fühlt den Übergang von einer in die andere Welt, von der Normalität in die Verwerflichkeit. Man spürt es auf der Haut.
Das Gebiet gilt als gefährlich, besonders nach Einbruch der Dunkelheit. Wer von der Metrostation zur Fußgängerzone, zur Plaza Cisneros oder zum Junín gehen muss, beschleunigt den Schritt. Die Menschen, die im Süden wohnen, in El Poblado mit den grünen Hängen, Parks und Schwimmbädern, werden – wenn irgend möglich – das Zentrum meiden. Hier schlendert man nicht, es locken keine Schaufenster mit Auslagen. Auf der Avenida rasen die Busse, als hätten sie es auf die Passanten abgesehen, die ängstlich versuchen, die Straßenseite zu wechseln.
Was die Gegend abstoßend macht, ist ihre Armut, das erbärmliche Aussehen der Menschen, die hier wohnen, ihre Verkommenheit. Auf den Bürgersteigen sammelt sich Schmutz, die Gebäude überbieten einander an Hässlichkeit. Der Gestank nach Urin und Menschenkot, aufgeweicht von tropischen Regengüssen, verschlägt einem den Atem.
Das wachsende Unbehagen beim Überqueren der unsichtbaren Grenze speist sich jedoch weniger aus der sichtbaren Realität als aus den Vorstellungen, die man sich davon macht, was hier vor sich gehen mag. Alle Stadtbewohner haben Geschichten parat von Diebstählen, gewaltsamen Überfällen und Morden in diesem Viertel, obgleich nur wenige etwas Derartiges persönlich erlebt haben. Phantasien steigern die reale Gefahr ins Unermessliche. Das ist wohl typisch für alle Gegenden der Welt, in denen die Gesellschaften ihre Prostituierten angesiedelt haben.
Prostitution, stigmatisierter Raum
Prostitution ist heikel. Umstritten kann man sie indes nicht nennen, denn es wird darüber ja nicht gesprochen. Jedes Kind in der Stadt weiß, dass man dorthin nicht geht, aber keiner fragt, warum nicht. Blicke ins unbekannte Terrain erlaubt man sich bestenfalls verstohlen und im Vorübergehen, aus dem Bus oder der Metro heraus, gesenkte Blicke. Jeder Anflug von Interesse wird durch Scham unterdrückt. Man meidet das Risiko, durch das, was man zu sehen bekommen könnte, angesteckt, infiziert, verunreinigt zu werden.
Die vermeintliche Kenntnis über das tatsächlich Unbekannte ist der sprachlosen Haltung abgerungen, die die Allgemeinheit diesem Thema gegenüber einnimmt. Ohne Worte zu machen, hat die Gesellschaft die ganze Zone zum Tabu erklärt. Die Angst vor dem Ort und das Unbehagen, darüber zu sprechen, lassen tatsächlich nur eine vage, pauschale Vorstellung zu, ein stigmatisiertes Wissen davon, wie es dort aussieht und was hinter den Fassaden der tristen Gebäude geschieht. Es ist das Verborgene, was die Phantasie reizt, die den Akteuren des verfemten Geschehens durch enge, dunkle Hausflure und über steile Treppen in hohe Stockwerke, Hinterhäuser und Holzverschläge folgt, wo das Unsagbare stattfindet. Das Unsichtbare und Geheime ist abstoßend, schmutzig, verwerflich und gerade deshalb aufreizend.
Es ist der greifbare Erfolg der Stigmatisierung, dass man von den Menschen, die ihr Leben in diesen Straßen und Häusern zubringen, nichts weiß und wohl auch in Zukunft nichts erfahren wird. Man kennt sie nicht, und man darf und will sie auch nicht kennenlernen. Wer hat jemals mit einer Prostituierten, mit einem Bordellbetreiber, mit dem Besitzer eines Stundenhotels über ihr Leben gesprochen, wer würde das tun wollen? Die unsichtbare Grenze überschreiten nur die Freier. Inkognito dringen sie in die fremde Gegend vor, sie schleichen gleichsam hinein und verlassen so bald wie möglich raschen Schrittes und mit eingezogenen Schultern das anrüchige Terrain. Dann sind ihre Gedanken über das Jenseits der Grenze mindestens so abschätzig wie die Vorstellungen jener, die höchstens in der Phantasie dort verkehren.
Die Straßen zwischen der Avenida Prado und der Kathedrale sind von allen Seiten offen und zugänglich. In Wirklichkeit jedoch hat sie die Öffentlichkeit längst ausgegrenzt und in sich abgeschlossen. Es ist ein emotional aufgeladener Raum, geschützt von einer aus Gefühlen der Angst, Scheu, Abscheu, Unsicherheit und Gefahr hochgezogenen Mauer. Als Bewohner eines fremden anormalen Landes sind die Menschen, die dort leben, stigmatisiert. So weit wie möglich werden sie Außenstehenden gegenüber verbergen, wie sie ihren Lebensunterhalt verdienen.
Die Mädchen, die hübsch sind und gepflegt aussehen, können von ihren Freiern mehr verlangen als andere. Luisa und Valentina gehören zu den besonders ansehnlichen Mädchen an der Avenida Prado. Sie sind immer sauber, haben rot geschminkte Lippen und gefärbte Augenlider. Man könnte daran zweifeln, dass sie richtige Straßenmädchen sind. Tagsüber halten sie sich mit den andern auf der Straße auf, scherzen viel, lachen, schnüffeln hin und wieder an Kleberflaschen und versorgen, wenn sie nicht gerade arbeiten, liebevoll ihre Kinder.
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