Achim Balters
Gegen den Koloss
Roman
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Inhaltsverzeichnis
Titel Achim Balters Gegen den Koloss Roman Dieses ebook wurde erstellt bei
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Impressum neobooks
Alles wirkt hier noch immer normal. Als wäre Anfelden ein kleiner Ort, der seinen Einwohnern genügend Lebensqualität bietet. Ländliche Harmonie, dörflicher Alltagsrhythmus, alte Heimaterde. Ein trügerisch schöner Junitag in der Niederrheinischen Bucht. Nichts deutet darauf hin, dass Anfelden zum Untergang verurteilt ist.
Das Ortsschild glänzt hellgelb in der Sonne, blühende Gräser umsäumen es, wachsen bis zur Landstraße, die zwischen Wiesen und Feldern auf das Dorf zukurvt. Schwalben fliegen akrobatisch um einen Bauernhof, wo in einem kleinen Nebengebäude Lebensmittel aus biologischem Anbau verkauft werden. Alte Stacheldrahtzäune umgrenzen nahe Weiden, auf denen schwarz-weiße Kühe wiederkäuen, träge und genügsam, als wären sie Buddhisten. Zeitlupenhaft wellt schwacher Wind Felder mit reifendem Korn, streicht sanft über noch junge Maispflanzen, die sich in langen Kolonnen auf beigefarbenem Ackerboden reihen. Ein Fasan landet in einem Rübenfeld, äugt sichernd nach allen Seiten, beginnt zu picken. Vor einem Reitstall wuchert dichtes Gestrüpp aus Holunder und Weißdorn, aus dem ein Spatzenchor schallt. Pferde traben langsam auf einer Koppel, deren Holzzaun an einer Obstwiese angrenzt. Neben einer Scheune stehen alte Pappeln, von der Sonne angestrahlt, alles andere überragend. Weit spannt sich der blassblaue Himmel, weiße Wolken driften nach Nordosten. Wo die Landschaft endet und der Ort beginnt, ist nicht zu erkennen. Alles scheint hier ineinander überzugehen.
Anfelden, 2537 Einwohner, ist ein leicht überschaubares Dorf. Die Wege sind kurz, das Zentrum wird mehr vom Wohnen als vom Einkaufen geprägt. Wer hier ein Geschäft hat, der hat auch ein Monopol. Die Bürgersteige sind breit genug, auf den Straßen schleicht beruhigter Verkehr. Die sommerlich gekleideten Menschen kann man schnell zählen. Ein ansehnlicher, aber kein malerischer Ort, der Touristen anzieht. Mit Sehenswürdigkeiten ist kein Geschäft zu machen. Es gibt keine. Der Ort trumpft nicht auf, wirkt echt, strahlt dörfliche Genügsamkeit aus. Im Zentrum stehen hauptsächlich Klinkerbauten, die nicht mehr als zwei Stockwerke besitzen. Hier und da sieht man dekoratives Fachwerk, auch Treppengiebel und Erker, kleinere Bausünden stören kaum. Der kopfsteingepflasterte Marktplatz mit Platanen und Blumenbeeten wirkt besenrein.
24 Grad zeigt das große Thermometer neben der Eingangstür der Apotheke an. Im Schaufenster sind die üblichen Versprechen der Pharmafirmen werbewirksam angeordnet. Vor der Bäckerei, deren Markise bis weit über den Bürgersteig reicht, unterhalten sich heftig gestikulierend ein Mann und zwei Frauen. Die ältere unterbricht sich, um missbilligend ein junges, hübsches Mädchen zu beäugen, das mit verschlossener Miene und zu großen Schritten vorbeistolziert, an ihrem Gang noch zu feilen scheint. Die Frau dreht sich wieder zu den anderen, setzt eine säuerliche Miene auf, sagt etwas. Alle drei verfolgen das Mädchen mit ihren Blicken. Die Frauen pressen wie auf Kommando die Lippen zusammen, der Mann schmunzelt.
Das Mädchen, starr geradeaus blickend, nähert sich der schiefergedeckten Dorfkneipe, vor der ein Brauereiwagen steht. Ein verschwitzter Mann wuchtet noch ein Bierfass von der Ladefläche zu Boden, steckt dann die Hände in die Hosentaschen, kann von dem Mädchen gar nicht genug zu sehen bekommen. Er pfeift anerkennend, als es etwas verkrampft an ihm vorbeigeht. Das Mädchen, das sich wohl noch nicht daran gewöhnt hat, von Blicken begutachtet zu werden, knabbert erst an der Unterlippe, lächelt dann geschmeichelt und betritt schwungvoll das Lebensmittelgeschäft, das wie eine Mischung aus Kramladen und Supermarkt aussieht.
Auf der gegenüberliegenden Seite blickt ein altes Paar gelangweilt aus dem Fenster eines schmalen Fachwerkhauses. Neben ihnen putzt sich eine Perserkatze. Ein Postwagen hält in der Nähe, ein Mann steigt aus, leert den Briefkasten vor dem Elektrogeschäft. Er grüßt zu dem alten Paar hoch, das aufzuleben scheint, freudestrahlend zurückwinkt. Mehrere Leute steigen aus einem Kleinbus, man kennt sich, schwatzt, lacht. Vor der Metzgerei, die garantiert erstklassiges Fleisch aus eigener Schlachtung anbietet, bellt kastratenhaft eine Promenadenmischung. Ein dünner Mann in kurzer Hose macht einen großen Bogen um den Hund, bleibt vor dem Zeitungskasten stehen, bückt sich und studiert die schlagzeilenfette erste Seite eines Boulevardblattes. Wenige Meter von ihm entfernt schiebt eine unscheinbare Frau mit ernstem Gesicht einen Kinderwagen über den Zebrastreifen.
Was man hier sieht, täuscht. Nur die Fassade des Alltags, hinter der sich ein für die Einwohner unerträgliches Drama abspielt. Seit fast drei Jahren leidet Anfelden unter dem Würgegriff einer übermächtigen Allianz aus Politik und Wirtschaft. In Friedenszeiten droht etwas für die Einwohner Unfassbares, nämlich die totale Vernichtung ihrer Heimat. Das Dorf, 1254 gegründet, wird, so ist es generalstabsmäßig und menschenverachtend geplant, restlos von der Landkarte verschwinden.
Anfelden liegt dort, wo vor Jahrmillionen die Natur, noch unbeschadet von menschlicher Willkür, nach ihren eigenen Gesetzen und Zufällen wirkte und so die Artenvielfalt des Tertiärs schuf. Im Kreislauf von Werden und Vergehen wuchsen in der Niederrheinischen Bucht Urwälder und starben ab. Tektonische Verschiebungen und das subtropische Klima ließen Torfmoore entstehen, die sich durch Überflutungen und Überlagerungen nach und nach zu mächtigen Braunkohlenflözen verdichteten.
Weil diese sich über viele Kilometer erstreckende Braunkohlenlagerstätte von der Energetik AG ausgebeutet werden soll, hat Anfelden keine Zukunft mehr. Über den Ort ist das Vernichtungsurteil gefällt worden. Wer die Macht hat, der hat auch das Recht. Das erfahren jetzt die Einwohner auf eine leidvolle Weise. Sie dürfen nicht mehr lange in ihrer Heimat bleiben, sind machtlos, leiden am Unrecht. Man geht gegen sie gnadenlos vor, als wären sie Feinde, jeder Widerstand ist zu schwach, zwecklos. Die 2537 Einwohner, nur noch ein lästiger Störfaktor, müssen so schnell wie möglich von hier verschwinden. Man vertreibt sie, Besiegte in einer Art Krieg, nennt es heuchlerisch Umsiedlung. Die maßlose Willkür der Mächtigen feiert hier brutale Triumphe.
Der kleine Junge im Trikot des 1. FC Köln, der jetzt über den Marktplatz geht, eine Zweieuromünze hochwirft und geschickt wieder auffängt, fühlt sich pudelwohl. Er hat den ganzen Morgen Fußball gespielt, zum Mittagessen gab’s superleckere Wiener Schnitzel und gleich kommt seine Oma, die ihm immer lustige Lieder vorsingt. Er glaubt, dass die Leute hier sein Trikot ganz toll finden. Hoch oben fliegt ein Flugzeug über ihn hinweg, vielleicht nach Amerika, da gibt es noch immer Indianer und viele Bären. Die Sonne blendet ihn, er kneift seine Augen zusammen, blickt zu dem langen Kondensstreifen hinter dem Flugzeug. Das ist alles weißer Rauch. Ganz viel, weil das Flugzeug so hoch und so schnell fliegt.
Er denkt jetzt nicht daran, dass er bald mit seinen Eltern aus Anfelden wegziehen muss. Schon seit mehreren Monaten weiß er, dass böse Menschen hier alles kaputt machen werden, nur wegen der blöden Braunkohle. Er kann nicht verstehen, warum diese Menschen das tun dürfen und dafür nicht bestraft werden. Seine Eltern haben versucht, was hier passiert, kindgerecht zu filtern, um ihn nicht traurig zu machen. Sie haben ihm schon das Grundstück gezeigt, wo sie schon bald ihr neues Haus bauen werden. Er bekommt dann ein ganz großes Kinderzimmer, in dem er endlich mehr Platz für seine Eisenbahn hat. Darauf freut er sich schon, und er findet es ganz große Klasse, dass sein Freund Axel dann nur wenige Meter entfernt auch in einem neuen Haus wohnt. Was er von den Geschehnissen in Anfelden erfährt, beschäftigt ihn, aber er leidet nicht darunter. Die riesigen Schaufelradbagger, die er immer auf der Fahrt zu seiner Tante Ingrid sieht, die in Grevenbroich wohnt, sind ihm unheimlich. So groß wie Dinos.
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