«So etwas wie mir kann dir hier in Neuss ja nicht passieren. Birgit, sag doch nicht Häuschen. Mir gefällt dein Haus. Es ist auf dich maßgeschneidert. Gute Bausubstanz, gekonnte Raumaufteilung. Du kannst wirklich stolz darauf sein. Ich fühle mich hier wohl. Sehr wohl.»
«Das höre ich gern, Richard.»
«Hoffentlich wird’s dir auch bei mir gefallen.»
«Wird es. Da bin ich mir ganz sicher.»
«Dann fühle ich mich dort wieder wohler», meint Richard.
«Ich finde, du bleibst in dieser für dich verflixt schwierigen Zeit erstaunlich gelassen. Wie jemand, der einfach lässt, was nicht mehr zu ändern ist. Eine gewisse Resignation ist mit dabei. Oder?», fragt sie.
«Klar», antwortet er. «Gegen diesen Braunkohle-Irrsinn hat man ja sowieso keine Chance. Warum sollte ich mich noch wehren? Diese gemeine Bande hat gewonnen, ich und viele andere haben verloren. Damit muss ich mich abfinden. So schwer es mir fällt.»
Der über Schlaglöcher rumpelnde Bus nähert sich Anfelden. Ellen Schmitz, die missmutig aus dem Fenster blickt, wird auf ihrem Sitz durchgerüttelt, stößt dabei mit ihrer Schulter gegen die dösende Frau neben ihr. Die Berührung ist ihr unangenehm, sie rückt näher an das Fenster heran, schenkt der Frau keinen Blick, eine ungepflegte, klapperdürre Alte mit Sauerkrauthaaren.
Wie sie das alles anwidert! Der voll besetzte, müffelnde Bus, der alte Knochen dicht neben ihr, die stinklangweilige Gegend. Nicht schade drum, dass das alles verschwinden wird. So eine grässliche Pampa. Alles sieht kleinkariert aus und scheißordentlich. Anfelden ist doch nur ein Spießernest. Ein Glück, dass sie bald von hier wegzieht. Ist doch Horror. Nix wie weg.
Der Bus hält am Marktplatz. Ellen windet sich an Körpern vorbei, von denen sie sich bedrängt fühlt, steigt aufatmend aus. In der Linken hält sie eine Plastiktüte. In Erkelenz hat sie mit ihrer Freundin Beate erst für die sauschwere Mathearbeit morgen gelernt, sich dann ein paar stark herabgesetzte Sandalen gekauft. Ein Schnäppchen, mit dem sie zufrieden sein kann, wenigstens damit. Wie sie hier alles anödet! Sie geht an dem taubenbedreckten Denkmal vor dem Rathaus vorbei, aus dem zwei laut schwatzende und herumfuchtelnde Frauen, zwei richtige Bauerntrampel, kommen. Eine kleine Gruppe älterer Menschen schlendert gemächlich über den Bürgersteig, bewegt sich auf das efeubewachsene Dorfgemeinschaftshaus zu, das in der Nähe der schmucklosen evangelischen Kirche steht. Der Friedhof hat Ausgang. Gruftis können sich in diesem Nest wohlfühlen. Sie nicht. Die Schaufenster der Geschäfte mustert sie abfällig. Nichts als Kram. Was kann man denn hier schon kaufen! Die Nachmittagssonne strahlt sie an. Sie knöpft ihr Polohemd weiter auf, zupft es am Kragen auseinander, damit mehr Sonne auf ihre Haut fällt. Sie möchte gern brauner sein. So braun wie Beate. Aber die hat ja auch eine Italienerin als Mutter. Ellen blickt starr geradeaus, als ihr zwei Dorfschwengel entgegenkommen, die sie frech mit Blicken abtasten. Glotzen grinsend auf ihre Brüste. Das kennt sie. Daran muss sie sich gewöhnen. Sie beobachtet sie aus den Augenwinkeln. Wenn man sie so anstarrt, fühlt sie sich zwar entblößt, aber irgendwie ist es auch prickelnd. Ellen ist stolz auf ihre Brüste. Sie fallen natürlich auf. Wirklich schöne Dinger, die Männer anturnen. Ruckartig wendet sie ihren Kopf zur entgegengesetzten Seite, als die beiden Kerle viel zu nah an ihr vorbeigehen. Sie spiegelt sich im Schaufenster des Haushaltswarengeschäfts. Wie groß sie ist! Und was für eine super Figur sie hat! Die beiden Kerle drehen sich jetzt bestimmt nach ihr um. Das verunsichert ihren Gang. Sie macht kleinere Schritte, um sie besser kontrollieren zu können.
Mit finsterer Miene blickt sie nach oben. Die Sonne ist hinter dicken Wolken verschwunden. Vor einer Ampel bleibt sie stehen, denkt an Marc. Heute trifft sie ihn nicht, erst morgen wieder. Sie vermisst ihn nicht. Der ist doch nur noch ein Auslaufmodell. Sie ist schon zu lange mit ihm zusammen. Aber leider hat sie noch nichts Besseres gefunden. Er sieht ja ganz gut aus und hat schöne Hände, von denen sie sich gern streicheln lässt. Aber er ist ihr zu bubihaft, hat auch kein Feeling beim Sex, stochert zu wüst in ihr herum, macht ein ziemlich blödes Gesicht dabei, ist meistens zu früh fertig. Er ist gerade erst 18 geworden, knapp zwei Jahre älter als sie. Ein älterer Freund wäre besser, einen so um die zwanzig braucht sie. Einen, der eben reifer ist und der’s schon richtig kann.
Die Ampel springt auf Grün. Ellen überquert die Straße. Zwei Autoschlangen bilden sich links und rechts von ihr, lärmen nervend, verstopfen den ganzen Ort. Überall Blech. Die Bürgersteige sind voller Dörfler, denen sie ihre Spießigkeit ansieht. Was für ein langweiliges Kaff! Die sollen hier doch nicht so ein Theater machen, nur weil Anfelden vom Tagebau geschluckt wird. Ist doch sowieso nur ein Friedhof. Gut, dass die Bagger kommen. Ihre Eltern wären sonst hier weiter kleben geblieben. Und sie mit ihnen. Sie freut sich schon darauf, dass sie nächstes Jahr nach Aachen ziehen. Da geht die Post ab, da muss sie hin, da ist immer was los. Vielleicht ist sie dann mit einem Studenten zusammen. Einer, der schon erwachsener ist, erfahrener als diese Schnösel, die sie bislang gehabt hat. In Aachen, eine tolle Stadt, wird sie auch studieren. Sie weiß überhaupt noch nicht, was, bestimmt nicht Mathematik.
Ein lächerlicher Dackel kläfft sie hinter einem Zaun an, als sie in die Straße kommt, wo sie wohnt. Jedes Mal, wenn sie hier entlanggeht, zieht sich alles in ihr zusammen. Eine enge Straße, wo Haus an Haus geklatscht ist, armselige Hütten, alle sehen gleich aus, richtige Gärten gibt es nicht, nur ein bisschen Rasen und ein paar mickrige Bäumchen. Hier wohnen nur Provinzler, die vor sich hindumpfen und sie ankotzen. Wenn sie könnte, würde sie sofort wegziehen.
Sie ist froh, dass sie niemandem begegnet, den sie grüßen muss. Jeder kennt jeden. Das findet sie grässlich. Sie fühlt sich beobachtet. Hinter Gardinen versteckt, verfolgt man sie jetzt mit Blicken. Da ist sie sich ganz sicher. Sie sieht, wie sich die scheußliche Rüschengardine hinter dem Wohnzimmerfenster der frommen Dahlke bewegt. Soll sie doch glotzen. Wer weiß, was diese Dörfler über sie tratschen. Aber das sollte ihr am Arsch vorbeigehen. Sie ist sowieso bald weg. Zum Teufel mit diesem Scheiß Kaff! Macht nichts, dass es ausradiert wird. Sie kann froh darüber sein, wird nichts vermissen. Erst recht nicht diese abgeschmackte Erdgeschosswohnung, in der sie noch immer mit ihren Eltern wohnt, und wo sie sich wie in einem Käfig fühlt. Alles andere als ein Zuhause, wo man sich wohlfühlen kann. Am liebsten würde sie in einer Villa wohnen. In einer wie die von den Lindners. Die sind stinkreich, haben Kohle ohne Ende. Dagegen sind sie doch bettelarm. Den Lindner hat sie vor ein paar Tagen in der Post gesehen. Ein Star-Architekt, der noch verdammt gut aussieht, vielleicht Mitte dreißig ist. Der kann’s bestimmt. Na ja, sie würde nicht Nein sagen, es einfach mal mit ihm ausprobieren.
Zwei Jungen kommen ihr entgegengetollt, stören sie bei ihren Tagträumen. Sie verzieht ihr Gesicht, weicht ihnen mit einem großen Schritt zur Seite im letzten Moment aus.
«He, ihr Rotzlöffel! Könnt ihr nicht aufpassen? Macht bloß, dass ihr wegkommt! Sonst kriegt ihr noch ein paar gelangt», schimpft sie hinter ihnen her. Die beiden hätten sie beinahe voll erwischt. Das hätte ihr auch noch gefehlt. Schlecht gelaunt geht sie weiter. Wie sie die Gegend hier anwidert! Gleich ist sie zu Hause. Sie hat kein gutes Gefühl. Was kann sie schon erwarten? Wieder nur Vorwürfe. Und blödsinnige Ratschläge. Sie hat den Schlüssel vergessen, schellt ärgerlich zweimal. Sie wirft einen abschätzigen Blick auf eines der drei Plastik-Namensschilder. Schmitz. Warum muss sie ausgerechnet Schmitz heißen? Ellen Schmitz. Wie das klingt! Ihr Familienname ist ihr peinlich. Sie würde ihn am liebsten sofort ändern. Bouvier wäre prima. So heißt ihre Freundin Brigitte. Bouvier hört sich echt gut an. Der Öffner summt, sie drückt die Tür auf, betritt den nach scharfen Putzmitteln riechenden Hausflur. Aber Ellen findet sie eigentlich ganz okay.
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