Im sachlich nüchternen Konferenzzimmer, das von zwei impressionistisch abgedroschenen Landschaftsbildern aufgewertet werden soll, erheben sich die Vorstandsmitglieder wie nach einem Signal von ihren Sitzen, die um einen fast raumlangen Tisch angeordnet sind. Sie nesteln an ihren Krawatten, knöpfen ihre Jacken zu, streichen ihre Röcke glatt, lächeln und nicken sich zu, garnieren die jetzt entstehende Leere mit floskelhaften Sätzen, geben sich so bedeutungsvoll wie möglich und gehen ohne Hast wie eine wohlsituierte Gruppe angepasster Menschen gemeinsam zu Tisch. Sie können mit sich zufrieden sein. Ihr neues Thesenpapier haben sie raffiniert als Lügengebäude mit unhaltbaren, aber realistisch anmutenden Behauptungen zurechtgezimmert und ihm den letzten Schliff für eine schönfärbende Veröffentlichung gegeben, um die sich ihre PR-Abteilung gleich mit aller Raffinesse kümmern wird.
Darin behaupten sie:
Der globale Primärenergieverbrauch und insbesondere der Stromverbrauch werden nach allen Analysen deutlich steigen.
Die fossilen Energien müssen noch auf Jahrzehnte den größten Teil des weltweiten Energiebedarfs decken.
Angesichts begrenzter Ressourcen und des weltweiten Wettbewerbs kommt den heimischen Energieträgern künftig eine verstärkte Bedeutung zu.
Mit der Braunkohle verfügt Deutschland über einen Energieträger, der wesentliche energiepolitische Ansprüche erfüllt. Sie kann kostengünstig gewonnen werden und ist in großen Mengen vorhanden, wodurch eine Versorgungssicherheit für viele Jahrzehnte gewährleistet ist.
Flexible konventionelle Kraftwerke müssen Erzeugungsflauten der Erneuerbaren kompensieren. Die Erneuerbaren können ab Mitte der Dekade die gesamte Last allerhöchstens stundenweise decken. Nur ein geringer Teil der installierten Wind- und Solarleistung steht jederzeit sicher zur Verfügung. Eine Reserve durch konventionelle Kraftwerke muss bereitstehen, um den wachsenden Anforderungen an die Flexibilität gerecht zu werden. Für einen Ausgleich der fluktuierenden Einspeisung ist heute noch keine ausreichende Speicherkapazität vorhanden. Deswegen ist er innovative Ausbau neuer konventioneller Kraftwerke dringend erforderlich.
Bei ganzheitlicher Betrachtung aller wesentlichen Anforderungen ist die Braunkohle eine gute Wahl. Ihre Wirtschaftlichkeit beweisen stabile, niedrige Brennstoffkosten und die hohe Einsatzflexibiliät neuer Anlagen. Als naturgegebener heimischer Energieträger garantiert sie Versorgungssicherheit. Ihre Gewinnung bewirkt Wertschöpfung im eigenen Land.
Neue Braunkohlenkraftwerke sind flexibel regelbar und bestens für die moderne Energieversorgung gerüstet. Sie sind dadurch ein starker Partner der erneuerbaren Energien. Durch große und schnelle Leistungsänderungen kann deren schwankende Einspeisung aufgefangen werden. Um die Kapazität zu erhöhen und die Umwelt zu schonen, wird der Erneuerung der Kraftwerke konsequent fortgesetzt.
Im Rheinischen Revier wurden bisher mehr als 20000 Hektar rekultiviert. Abwechslungsreiche Rekultivierung berücksichtigt die Leitlinien der Ökologie, unterstützt die Landwirtschaft und richtet sich nach den Erholungsbedürfnissen der Bevölkerung.
Auf absehbare Zeit bleibt die Braunkohle tragende Säule in der Stromversorgung und bietet über die Verstromung hinaus vielfältige Nutzungsmöglichkeiten für die Zukunft. Forschung und Entwicklung werden auf hohem Niveau umgesetzt und Zukunftsoptionen entwickelt. Die Braunkohle sichert in vielfältiger und verlässlicher Weise Wohlstand und Beschäftigung.
Braunkohle – heute und in Zukunft ein großes Plus für das Revier. Glückauf.
Die Rosen im Beet neben der Terrasse sind von Läusen befallen, noch nicht so stark, aber für Anna Lindner, die sich gerade zu einer historischen Rose niederbeugt, wird es Zeit, sie zu bekämpfen. Die chemische Keule will sie nicht einsetzen, eine Seifenlösung und Brennnesselbrühe könnten reichen. Schon gestern hätte sie die Rosen spritzen sollen, doch dazu war sie nach dem schauderhaften Gespräch mit Efferen nicht mehr fähig. Mit zwei großen Schritten geht sie aus dem Beet, stellt sich an den Rand und betrachtet es. Eigentlich kann sie mit der diesjährigen Blüte zufrieden sein, auch die neu gepflanzten Duftrosen haben sich gut entwickelt. Der Läusebefall ist noch moderat. Den wird sie schon in den Griff bekommen. Gegen Läuse auf den Rosen kann man etwas machen, aber nichts gegen diese Braunkohlenschurken.
Annas Gesicht verfinstert sich. Sie wollte doch wenigstens im Garten nicht mehr daran denken. Und hat Richard ihr nicht gesagt, dass sie unbedingt Abstand zu dem Ganzen braucht und versuchen soll, das Schöne hier noch zu genießen? Aber wie? Wenn der Gedanke andauernd an ihr nagt, hier bald alles zu verlieren? Sie weiß es nicht. Irgendwie muss sie es schaffen, sonst geht sie ein. Schlimmer darf es nicht werden. Die Rosen merken nichts davon. Die sind zu beneiden. Wenn sie eine Rose wäre, dann, ach, was denkt sie da eigentlich? Sie schüttelt den Kopf, zieht die Gartenhandschuhe aus, legt sie vor das Beet und geht zu dem Mosaiktisch, der auf der Terrasse in Hausnähe steht. Sie nimmt die Kanne vom Stövchen, schenkt sich eine Tasse duftenden Kräutertee ein und setzt sich auf einen der vier Rattanstühle. Sie inhaliert tief den Duft des Tees, trinkt einen Schluck, stellt die Tasse ab, lehnt sich zurück und betrachtet mit Wohlgefallen den durchsonnten Park. Ihren Augen bietet sich ein abwechslungsreiches, harmonisches Bild mit alten Bäumen, hohen ineinander gewachsenen Sträuchern, einer großen, von zwei alten Apfelbäumen aufgelockerten Rasenfläche und mehreren, geschickt verteilten Beeten. Ein kleiner Pavillon steht im hinteren rechten Bereich, wenige Meter von einer sich weit ausbreitenden Trauerweide entfernt. Annas Blick verweilt dort ohne Wimpernschlag. Es war der Lieblingsplatz von ihrem Mann. Ein romantisch wirkender Rundbau mit einem Kuppeldach und länglichen Fenstern, die von angedeuteten Säulen gegliedert werden. Wie oft sie mit Carsten dort gesessen hat! Unsere kleine Grotte, nannte er es. Sie redeten dann nur wenig, saßen nebeneinander auf den zierlichen Teakstühlen und spürten ihre innige Verbundenheit. Er genoss es, von dort aus seinen Blick bis zur Villa schweifen zu lassen. Nie sprach er darüber, aber sie spürte, dass er stolz darauf war, das alles hier mitfinanziert zu haben. Richard, an dem er wohl noch mehr hing als sie, sollte sich einen architektonischen Wunschtraum erfüllen können. Und dann hat er nach einigen Schwierigkeiten alle Erwartungen übertroffen. Für Carsten war es auch eine sinnvolle, sichere Investition in ein Objekt von steigendem Wert.
Wenn er noch miterlebt hätte, was hier passiert! Er wäre empört darüber gewesen, hätte mit allen juristischen Mitteln versucht, dagegen vorzugehen. Es wäre für ihn wieder ein Beispiel dafür gewesen, was in diesem sogenannten Rechtsstaat, möglich ist. Wie Unrecht Recht bekommt. Ihm konnte man nichts vormachen. Er scherte sich nicht darum, ob er aneckte, wenn es um die Wahrheit ging. Manchmal vielleicht zu eigensinnig. Richard hat seinen scharfen Verstand geerbt. Und seinen Schönheitssinn. Wann war sie eigentlich mit Carsten das letzte Mal hier? Auf Richards 34. Geburtstag? Nein, zwei Wochen später.
An einem Sonntagnachmittag. Richard und Iris waren schon im Haus. Anna kommt es jetzt so vor, als hätte sie es erst vor Kurzem erlebt. Sie sieht ihn deutlich vor sich. Sein gütiges, längliches Gesicht mit den klugen, großen Augen. Sein Lächeln. Hand in Hand kamen sie aus dem Pavillon, spazierten durch den Park. Es hatte zu regnen begonnen, es störte sie überhaupt nicht. Sie strich ihn sanft über das nasse Gesicht. Dann umfasste er sie und tanzte mit ihr auf dem Rasen einen langsamen Walzer. Ganz spontan. Es war rutschig, aber sie fielen nicht hin. Sie lachten. Lebensfroh wie zwei Jungverliebte. Als sie an dem Staudenbeet vor den Weigelien und Deutzien vorbei tanzten, blieb er stehen. Er beugte sich zu den Blumen hinunter, pflückte einen gelben Sonnenhut und steckt ihn in das oberste, freie Knopfloch ihrer Bluse.
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