Kander steht mit nachdenklichem Gesicht und in den Taschen vergrabenen Händen vor dem Modell eines verschachtelten Gebäudekomplexes mit Geschäften und Wohnungen. Er hat die Statur eines Athleten, treibt aber keinen Sport, ist stolz auf seine Gene. Er trägt zu einer schwarzen Jeans ein Polohemd mit Miniatur-Spirale. Er sieht verwegen aus. Seine langen Haare lassen das von einer Hakennase geprägte, schmale Gesicht hohlwangig erscheinen. Er hat Architektur und Soziologie studiert, wollte Stadtplaner werden, wechselte, von seinem Berufsalltag enttäuscht, oft die Stelle, fuhr eineinhalb Jahre Taxi, versauerte danach überqualifiziert mehrere Jahre auf dem Kölner Bauamt, bevor ihn Richard auf Empfehlung eines Bekannten einstellte. Er ist vielseitig einsetzbar, weiß, was er kann, hat einen von Richard sehr geschätzten Sachverstand, ist stark in der Argumentation, aber manchmal etwas praxisfern. Ihre Entwürfe für Ausschreibungen und Wettbewerbe weiß Norbert theoretisch glänzend zu untermauern, wodurch sich ihre Erfolgschancen vergrößern. Die Artikel, die er in Fachzeitschriften veröffentlicht, sind eine gute Werbung für das Architekturbüro.
Hinter ihm sitzt Kevin Noll in der Nähe der Telefonanlage, blickt abwechselnd zu ihm und dem Baumodell. Er scheint darauf zu warten, dass Kander etwas zu ihm sagt. Er ist 22 Jahre alt, Architekturstudent, der als Hilfskraft auch wegen seiner zurückhaltenden Art bei allen gut ankommt. Zuverlässig erledigt er die anfallenden Nebenarbeiten. Als Sohn einer alleinerziehenden Verkäuferin arbeitet er hier nicht nur in den Ferien, sondern auch stundenweise während des Semesters.
Richard merkt, wie er alles in sich aufsaugt und zu einem realistischen Berufsbild verarbeitet. Er scheint sich hier wohler zu fühlen als in der Universität. Richard gefällt seine Leistungsbereitschaft, seine immer maßvolle Neugier und wie entschlossen er sich durchboxt, um seinen Berufswunsch zu verwirklichen. Ein intelligenter, hoch motivierter Bursche, der bestimmt seinen Weg machen wird. Verglichen mit Kevin, hat er als Student ein luxuriöses Leben geführt. Er und Axel haben bereits beschlossen, sein Gehalt ab kommendem Monat deutlich zu erhöhen.
Richards Architekturbüro wird es im Gegensatz zu seiner Jugendstilvilla, die bald von der Vernichtungsmaschinerie des Braunkohlentagebaus dem Erdboden gleichgemacht wird, noch lange geben. Es ist der Ort, an dem er sich in letzter Zeit am wohlsten fühlt und der für ihn wichtiger als je zuvor geworden ist. Sein Reich, das ihm niemand nehmen kann, es steht auf sicheren Fundamenten, Bedrohungen gibt es nicht. Die Gegenwart glänzt und die Zukunftsperspektive erfreut. Sein erfülltes Berufsleben ist ein stabilisierender Ausgleich zu der nicht mehr abzuwendenden Zerstörung seines Zuhauses, seiner Heimat. Hätte er ihn nicht, dann könnte er vielleicht die Balance verlieren und in Schieflage geraten. Was er macht, ist sinnvoll, hat einen Wert. In seinem Architekturbüro ist er bei sich, genießt die freundschaftliche Atmosphäre, begeistert sich für seine Arbeit, gestaltet, ist kreativ. Das ist seine Welt, sagt er sich heute mehrmals, nicht das, was wegen des Braunkohleterrors passiert. Er fühlt sich im Leben positiv verankert.
In Düsseldorf werden zur gleichen Zeit im Konzerngebäude der Energetik AG die Weichen für die Zukunft des ebenso maßlosen wie destruktiven Braunkohlentagebaus gestellt. Hoch oben in der Vorstandsetage mit Panoramablick auf die Stadt und den dunklen, matt glänzenden Rhein haben die zu 80 Prozent männlichen Mitglieder ein schönfärbendes Thesenpapier abgesegnet. Beinahe diskussionslos hat man beschlossen, dass die Strategie dieselbe wie bisher bleiben muss.
Jede Kritik am Tagebau soll mit gezielten Gegenargumenten als ungerechtfertigt hingestellt werden. Eine Art Schutzschild ist vor gegnerischen Angriffen nötig, die mit rein privatistischen Gründen und wissenschaftlichen Halbwahrheiten die energiepolitische Notwendigkeit der Braunkohlegewinnung infrage stellen. Es muss weiterhin alles unternommen werden, um eine problemlose Stromversorgung garantieren zu können. Die Öffentlichkeit wird weiterhin professionell von ihren PR-Strategen bearbeitet. Es ist eine für sie notwendige Täuschung, die ein Gegengewicht zu den weltfremden Gegnern des Tagebaus ist. Die Energetik AG und die Landesregierung sind verlässliche Partner auf dem Energiesektor und sich ihrer großen gesellschaftlichen Verantwortung bewusst. Nur dann werden sich die Investitionen bezahlt machen, wenn rein ökonomische Ziele Priorität haben und konsequent durchgesetzt werden. Die Gefühlslage von im Vergleich zur Gesamtbevölkerung wenigen Menschen, die wegen des expandierenden Tagebaus umgesiedelt werden und sich an diese Tatsache noch gewöhnen müssen, ist angesichts ihrer Firmenpolitik bedeutungslos. Um auf dem internationalen Strommarkt, wo ein aggressiver Preiskampf herrscht, weiterhin wettbewerbsfähig zu bleiben, braucht der Konzern Handlungssicherheit und natürlich auch eine gewisse Handlungsfreiheit.
Für die Zukunft der Braunkohle sehen die Vorstandsmitglieder nicht schwarz. Ganz im Gegenteil! Die Prognosen sind glänzend, fette Gewinne locken. Auch dank der geschickten politischen Feinarbeit der Lobbyisten, auf die man heute in diesem Kreis wieder lobend eingegangen ist. Man rechnet mit einer deutlichen Gewinnsteigerung. Der Aktienkurs wird weiter Fahrt aufnehmen, und die Anleger können mit einer noch höheren Rendite als bisher rechnen. Es ist naheliegend, dass alle, die hier versammelt sind, sich selbst im Auge haben, wenn sie an Konzern denken. Je besser es ihm geht, desto mehr profitieren sie davon. Nach diesem ebenso banalen wie rigiden Credo richten sie sich. Was für den Konzern gut ist, das ist für sie gut, und was für ihn schlecht ist, das ist auch für sie schlecht. Ihr einheitlicher Kleidungsstil, der von Seriosität und Qualität zeugen soll, passt zu ihrem gut trainierten Verhalten, das an ihr Berufsleben perfekt angepasst ist. Sie achten sehr darauf, sich keine Blöße zu geben. Die nackte Wahrheit ist für sie ein Gespenst, vor dem sie zurückscheuen. Sie haben sich darauf versteift, energisch das zu vertreten, was im Interesse des Konzerns liegt. Sie hüten sich davor, anderen zu verraten, was sie wirklich denken. Das wäre für sie höchst gefährlich. Wer von den jetzt tagenden Konzernlenkern insgeheim kritisch oder gar ablehnend den Braunkohlentagebau beurteilt, verbirgt es wohlweislich hinter der Fassade seines Berufsalltags. Gebetsmühlenartig wiederholen alle, dass der Braunkohlentagebau in Deutschland eine lange Tradition hat und auch eine gesicherte Zukunft haben muss. Das Leid der Menschen, die beispiellose Umweltzerstörung und die mahnenden wissenschaftlichen Gutachten sind unmissverständliche Tatsachen, die diesen Industriezweig, objektiv betrachtet, bei den Verantwortlichen in einem ganz anderen Licht erscheinen lassen müssten. Manch einer dieser hoch bezahlten Manager wird vielleicht am Sinn des Abbaus von Braunkohle zweifeln oder sogar bedauern, was dieser sogenannte Bodenschatz bereits angerichtet hat und weiter anrichten wird. Vielleicht wird er sich sogar mitschuldig fühlen. Moralische Anwandlungen sind innerhalb dieser Führungsriege nicht auszuschließen. Aber so etwas müssen die Mitglieder für sich behalten, um ihre Karriere nicht aufs Spiel zu setzen. Sie haben eine Familie oder wollen eine gründen, befolgen alle firmeninternen Regeln und bewältigen ein großes Arbeitspensum, um ihren Lebensstandard zu sichern. Aufkeimende Sorgen wegen der Umwelt unterdrücken sie und impfen sich die Überzeugung ein, dass die Braunkohlegegner maßlos übertreiben. Es kann sein, dass jemand ein schlechtes Gewissen hat, aber er lebt gut damit. Als Lügner und Heuchler fühlt er sich hier in bester Gesellschaft.
Gleichgültig, wie groß ihre Zweifel sind, sie gehen darüber hinweg, lassen sich nichts anmerken. Ihre Intelligenz mag ihnen zwar einflüstern, dass der Braunkohlentagebau eine energiepolitische Sackgasse und zivilisationszerstörende Katastrophe ist, doch das müssen sie ausblenden. Eine gute Dosis Zynismus wird ihnen dabei helfen. Die Braunkohle ist und bleibt für sie Mittel zum Zweck. Eine Ware, mit der sie schon lange ein gutes Geschäft gemacht haben. Von Querulanten darf es nicht blockiert werden. Es geht um den Profit, und der ist ihnen heilig. Sie zementieren die Bedeutung des Braunkohlentagebaus mit Behauptungen, an die sie selbst nicht glauben. Fern jeder moralischen Hemmung, verfolgen sie rigoros ihre Ziele. Mit ihren rücksichtslosen Entscheidungen verschulden sie in Friedenszeiten verheerende Zerstörungen, die von sogenannten Volksvertretern politisch abgesegnet sind. Das gibt ihnen die nötige Rückendeckung für ihr aggressives Vorgehen. Kein Vorstandsmitglied käme auf die Idee, eigene Bedenken öffentlich zu äußern oder gar die Energetik AG anzugreifen. Wer sägt schon den Ast ab, auf dem er sitzt? Wes Brot ich ess, des Lob ich sing. Was auch immer hinter der Fassade ihrer kontrolliert und seriös wirkenden Gesichter vor sich geht, sie sind dafür verantwortlich, was sie als Konzernlenker beschließen.
Читать дальше