Gelassener werden, sich an das Unvermeidliche gewöhnen. Was bleibt ihm denn anderes übrig? Er muss das durch, Abschied nehmen, braucht aber noch Zeit dazu. Ohne Birgit würde es ihm schwerer fallen, zweifellos. Sie lässt ihn nicht in Selbstmitleid zurücksinken, stärkt ihn, bietet ihm eine neue Perspektive. Sie gehört bereits zu seinem Neubeginn. Mit ihr zusammen wird er hoffentlich bald wieder sein Leben umarmen können.
Richard merkt, wie Müdigkeit ihn stärker durchrieselt. Seine Gedanken bleiben noch bei Birgit, beginnen aber schon durcheinander zu treiben, so lange, bis alles verschwimmt und er im Schlaf versinkt.
Wenn vor 30 Millionen Jahren die Erdkruste in der Niederrheinischen Bucht nicht durch gewaltige Senkungsbewegungen umgeformt worden wäre und die üppige, artenreiche Vegetation der küstennahen Urwälder sich nicht zu Torf zersetzt hätte, der nach Meeresüberflutungen und Meeressenkungen von Schichten aus Sand, Kies und Ton überlagert, zusammengepresst und allmählich zu den größten Braunkohlenflözen Europas verdichtet wurde, dann hätten sich Energiewirtschaft und Politik nicht zu einer skrupellosen Braunkohle-Allianz verbündet und dann würde auch nicht Richard Lindners Jugendstilvilla in naher Zukunft von der Abrissbirne des Machtmissbrauchs zerstört werden. Verglichen mit den in Urzeiten entstandenen Braunkohlenflözen, die jetzt hemmungslos ausgebeutet werden, hat sie eine nur Wimpernschlag lange Geschichte.
Die 1912 erbaute Villa diente anfangs einem Stolberger Textilfabrikanten als standesgemäßes Renommier-Domizil, sollte der steinerne Beweis für seinen unternehmerischen Erfolg sein. Einem Kölner Architekten war es gelungen, ein dreigeschossiges, harmonisch gegliedertes Bauwerk zu gestalten, das von einem gemäßigten Jugendstil geprägt wurde; dafür sorgten auch die geschickt verteilten Renaissance-Anklänge.
Für Richard eine meisterhafte Baukomposition, die er von Anfang an sehr schätzte. Eine überzuckerte Jugendstilvilla, bei der sich, dafür kennt er einige abschreckende Beispiele, naive Formspielereien zu stark in den Vordergrund drängen, hätte er nicht gekauft.
Nach dem Ersten Weltkrieg bezog ein Aachener Chirurg mit großer Familie die Villa, der sie später als rheumageplagter, in Südfrankreich Linderung erhoffender Ruheständler an einen heute vergessenen Bestseller-Autor verkaufte. Die wechselnden Besitzer, darunter auch ein virtuoser Hochstapler, und die sich über Jahrzehnte erstreckende Gebäudealterung nahmen der Villa einiges von ihrem architektonischen Glanz.
Viel zu spät, erst 1982, als die Verunstaltungen schon alarmierend waren, wurde sie unter Denkmalschutz gestellt. Trotzdem häuften sich Versäumnisse. Das unter strikten Sparmaßnahmen leidende Amt für Denkmalschutz kontrollierte nur lasch die Auflagen und bezuschusste die jeweiligen Eigentümer mit zu niedrigen Beträgen, die nur die nötigsten Restaurierungsarbeiten abdeckten.
Als Richard die leer stehende, am Ortsrand von Anfelden gelegene Villa kaufte, war sie in einem ziemlich ramponierten Zustand. Sie erinnerte ihn an eine ehemals schöne Frau, die sichtlich gealtert war und sich vernachlässigte. Die architektonische Schönheit war noch immer erkennbar, beeindruckte ihn sofort, jedoch hatten Materialschäden und menschliches Unvermögen im Laufe der Zeit deutlich ihre Spuren hinterlassen. Es war ein Baukunstwerk, das dringend saniert und restauriert werden musste. Der Eigentümer, ein am Rande des Bankrotts balancierender Geschäftsmann aus Neuss, der auf seinen am Markt vorbei produzierten Billigmöbeln sitzen geblieben war, bewohnte sie seit einem Jahr nicht mehr und hatte vorher zu wenig in ihren Erhalt investiert. Wegen mehrerer, von strengen Gutachten aufgedeckten Baumängeln, und weil er der einzige ernsthafte Interessent war, konnte Richard den Kaufpreis auf günstige 440000 Euro herunterhandeln.
Sein Vater, ein vermögender Notar, für den Immobilienbesitz die beste Kapitalanlage war, schenkte ihm 250000 Euro, die ihm halfen, seine Vorstellungen zu verwirklichen.
Die mit viel Aufwand restaurierte und modernisierte Villa wurde für Richard zum Zentrum seines Lebens, in dem Privates und Berufliches ineinander übergingen.
Zusammen mit seinem Partner Axel Tiedeck verlegten sie ihr bereits florierendes Aachener Architekturbüro dorthin, was mit einem gewissen Werbeeffekt verbunden war. Im Erdgeschoss waren die Büroräume untergebracht, das Ober- und Dachgeschoss bewohnte Richard zusammen mit Iris, die hier, wie sie es damals nannte, ein aristokratisches Lebensgefühl bekam. Zuerst schmunzelte Richard darüber, doch dann bespöttelte er es.
Die Denkmalschützer waren von der sich in neuem Glanz zeigenden Villa begeistert, lobten Richard wegen seines souveränen und zugleich vorsichtigen Umgangs mit historischer Bausubstanz. Sie nannten es ein Baudenkmal, das für Anfelden, das nicht gerade reich an schützenswürdigen Bauten sei, eine besondere Bedeutung habe. Schließlich verbuchten sie es als hervorragendes und vorbildliches Beispiel geglückten Denkmalschutzes, auch wenn sie kaum etwas dazu beigetragen hatten.
Acht Jahre blieb die Villa das Zentrum seines Lebens. Er genoss es, dort zu wohnen und zu arbeiten. 24 Stufen ging er auf der sich bogenförmig durch den Raum schwingenden Treppe nach unten, um seinen Beruf auszuüben und auf demselben Weg nach oben kehrte er zu seinem Privatleben zurück. Das änderte sich, als Richard mehr Platz für sich und seine Familie benötigte. Er und Iris hatten beschlossen, ein Kind zu zeugen, wofür sie sich zu sexuellem Leistungssport animierten. Zwei Kinder waren eingeplant. Ihr Familienleben sollte nicht von Rücksichten oder Störungen beeinträchtigt werden, die mit dem im Erdgeschoss gelegenen Berufsalltag von Richard zusammenhingen. Es gab auch noch einen weiteren Grund, die Firma auszuquartieren.
Richards Vater war infolge eines tragischen Irrtums bei der Wildschweinjagd erschossen worden. Er hinterließ ein beachtliches Vermögen und eine todunglückliche Frau. Anna verkraftete nicht, was passiert war, verlor ihren Elan, mit dem sie vorher andere mitreißen konnte. Sie fühlte sich ausgehöhlt, taumelte, wurde anfällig für seelische Abstürze. Richard, der sich Sorgen um seine Mutter machte, überzeugte sie davon, in die Villa zu ziehen, wo es Platz genug für sie gab. Dort lebte sie wieder auf, genoss menschliche Nähe und schwärmte noch mehr als zuvor von der Villa, bezeichnete sie als ihr kleines Schlösschen. Sie vermisste zwar weiterhin ihren Mann, den sie, wie Richard meinte, idealisierte, aber es gelang ihr immer besser, ohne ihn zu leben.
Alles schien hier gut geregelt. Die Gegenwart bot Zufriedenheit und die Zukunft war kein Problem. Richard war stolz darauf, was er aus der Villa gemacht hatte. Ein Prachtbau, ganz auf seine Familie zugeschnitten, bestens geeignet für ein Mehrgenerationenhaus. Ein außergewöhnliches Zuhause für lange Zeit. Zum ersten Mal hing er an einem Gebäude. Seine Lebensfreude war damit verknüpft.
Doch dann veränderte sich alles auf eine einschneidende Weise. Anfangs war es nur ein Gerücht. Richard spürte zwar Unbehagen, aber es stufte es als Schwarzseherei von zu misstrauischen Umweltschützern ein. Nein, das konnte gar nicht stimmen, dass der Braunkohlentagebau doch noch weiter als geplant vorrücken, Anfelden und damit sein Eigentum wegbaggern würde. Hatte die Energetik AG nicht stets beteuert, dass keine weiteren Tagebaue geplant seien? Und Politiker hatten es doch immer wieder bestätigt, Anfragen besorgter Bürger auf eine beruhigende Weise beantwortet. Doch dann stellte sich heraus, dass alle Verlautbarungen nur abgefeimte Täuschungsmanöver von Industrie und Politik waren, um die Menschen hinters Licht zu führen. Anfelden und noch acht weitere Ortschaften würden von der Landkarte verschwinden, ausradiert vom Braunkohlentagebau.
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