1 ...6 7 8 10 11 12 ...24 Richard bedauert das Verhalten seiner Mutter, erklärt es mit der Ausnahmesituation in Anfelden, der sie nicht mehr gewachsen sei. Tja, da müsse sie aber durch, es führe kein Weg daran vorbei, meint Efferen. Leider seien die Fronten zwischen ihnen jetzt verhärtet. Das bestätigt Richard trocken. Sie brechen das Verkaufsgespräch ab, lassen einen neuen Termin noch offen, verabschieden sich kühl.
Noch knapp fünf Kilometer entfernt, von Richards Jugendstilvilla aus nicht zu sehen und zu hören, frisst sich der Schaufelradbagger N12 durch das Erdreich. In wenigen Jahren wird er hier angekommen sein und, fern von menschlicher Zivilisation, in einer weiträumigen Grube Braunkohle fördern.
Die Energetik AG ist stolz auf ihn, präsentiert ihn als ein einzigartiges Wunderwerk der Technik.
Der größte unter den riesigen Schaufelradbaggern, der Super-Star mit bewundernswerten Maßen und Leistungen. 96 Meter hoch, also höher als der Ozeanriese Queen Mary, 220 Meter, mehr als zwei Fußballplätze lang und 13500 Tonnen schwer, das ist doppelt so viel wie der Eiffelturm. Es ist die größte Arbeitsmaschine der Welt. Das Schaufelrad hat einen Durchmesser von sage und schreibe 21 Metern, das ist so hoch wie ein siebenstöckiges Haus. Neue satellitengestützte GPS-Systeme lassen den N12 noch effizienter schaufeln. Seine Leistungsfähigkeit ist enorm – 240000 Kubikmeter pro Tag! Damit kann man einen Güterzug von 16 Kilometern füllen. Sein jährlicher Stromverbrauch ist so hoch wie in einem Dorf mit 5000 Einwohnern (1350 Haushalte mit jeweils 3600 kWh).
Auf Hochglanzprospekten und Videos wirbt Energetik für ihn, dieses imponierende Beispiel menschlichen Fortschritts. Einst waren es nur einfache Schaufeln in den Händen von Arbeitern, mit denen mühselig nach Braunkohle gegraben werden musste. Als zu Beginn des industriellen Zeitalters die Arbeitsabläufe endlich mechanisiert und dadurch erleichtert wurden, setzte man auf Schienen fahrende Eimerkettenbagger ein, die weitaus höhere Förderleistungen erzielten als ganze Heerscharen von Arbeitern mit ihrer Muskelkraft. Das war schon ein beachtlicher Fortschritt, ist aber nicht zu vergleichen mit der Spitzentechnologie unserer Schaufelradbagger, von denen der N12 nicht nur der größte, sondern auch wegen seiner neuartigen Computersysteme der am weitesten entwickelte ist. Dieses mit 4500 PS ausgestattete Hightech-Wunderwerk, das nur fünf Mann pro Schicht bedienen müssen, hat natürlich auch seinen Preis. Es kostet, sage und schreibe 214 Millionen Euro! Eine extrem hohe Investition der Energetik AG, aber sie rentiert sich auf jeden Fall. Denn seine grandiose Förderleistung senkt die hohen Produktionskosten, die wegen der komplizierten Arbeitsabläufe im Braunkohlentagebau entstehen. Er ist für uns unverzichtbar, ein Garant für das Erreichen unserer unternehmerischen Ziele. Es geht uns vor allem um kostengünstige Energiegewinnung angesichts internationaler Konkurrenz, um zukunftsorientierte Energieversorgung im Zeitalter schwindender Ressourcen und um die Sicherung von vielen Tausend Arbeitsplätzen. Der hiesige Braunkohlentagebau setzt mit dem N12, dem größten Schaufelradbagger der Welt, auch ein eindrucksvolles Zeichen dafür, dass Nordrhein- Westfalen ein dynamischer, fortschrittsorientierter Wirtschaftsstandort ist. Wer Interesse hat, den N12 in seinem Revier live zu erleben, dem bieten wir geführte, ebenso informative wie spektakuläre Ausflugsfahrten (kostenlos!) zu diesem einzigartigen Giganten der Technik an. Hobby-Fotografen kommen dabei voll auf ihre Kosten. Seine gigantische Größe und seine einzigartige Leistungsfähigkeit haben den N12 weltberühmt gemacht. Er ist unser technischer Super-Star. Die Broschüre «Braunkohle heute» mit eindrucksvollen Fotos vom N12 und wissenswerten Informationen über den Braunkohlentagebau können Sie bei unserem Kundenservice bestellen.
Richard hat sich von dem Imponiergehabe der Energetik AG nie blenden lassen. Auch als er noch nicht in Anfelden wohnte und ihm der Gedanke fern war, selbst einmal zu den Opfern des Braunkohlentagebaus zu gehören. Ihn hat schon immer die mit großem Werbeaufwand betriebene Öffentlichkeitsbearbeitung des Konzerns abgestoßen, der seit Jahrzehnten versucht, das als fortschrittlich und wertvoll zurechtzulügen, was hirnverbrannt und zerstörerisch ist. Und die 16, den Niederrhein zerwühlenden Schaufelradbagger, die man verblendet als nützliche Giganten feiert, waren für ihn nie etwas anderes als ein Bataillon von Zerstörungsmaschinen, die von wirtschaftlichen Interessen rücksichtslos gelenkt werden. In Friedenszeiten verwüsten sie, abgesegnet von politischem Starrsinn, den Lebensraum tausender Menschen, um kilometerweit Braunkohle zu erbeuten, mit katastrophalen Folgen für die Umwelt. Richard wundert sich über diejenigen, die Schaufelradbagger als Wunderwerke der Technik anstaunen. Wie naiv muss man sein, um sich von solchen Maschinenmonstern beeindrucken zu lassen? Es sind abstoßende Beispiele dafür, was geschieht, wenn menschliche Maßlosigkeit sich hemmungslos austoben kann. Und die Nummer eins davon ist der N12.
Früher hat er zwar kritisch, aber noch unbeteiligt mitverfolgt, was der Tagebau am Niederrhein anrichtet, wie Menschen Haus und Hof verloren, Lebensräume vernichtet, nicht wiedergutzumachende Umweltverbrechen begangen wurden. Er war nur ein Augenzeuge. Doch jetzt wird er selbst damit konfrontiert. Wie viele andere in dieser Region ist auch er ein Opfer des Braunkohlen-Terrors geworden.
Die Konzern-Propaganda, die mit großem Budget und schmieriger Werbepsychologie die Öffentlichkeit zu bearbeiten versucht, widert Richard immer stärker an. Sie erinnert ihn an die Heucheleien und Lügen, mit denen Regierungen ihre Macht absichern wollen, Behörden Missstände vertuschen oder Firmen auf Kritik reagieren. Die Wahrheit soll nicht ans Licht kommen.
Der N12 ist der Bagger, der schon am weitesten bis zu seinem Zuhause vorgerückt ist und immer näherkommt, unaufhaltsam, Meter für Meter. Bald wird er hier stehen und anstatt eines Baukunstwerks wird es nur noch ein Werk der Zerstörung geben. Jeden Tag muss Richard daran denken. Und er wird es auch weiterhin nicht aus dem Kopf bekommen. Was er hier erlebt, ist eine andere Form der Diktatur. Der N12 dient der Willkür einer mächtigen Clique, die nicht befürchten muss, für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen zu werden. Er ist ihr Star, auf den sie auf eine abstoßende Weise auch noch stolz sind.
Für Richard zeugt der Schaufelradbagger N12 von technischer Perversion. Brutal funktionalistisch, skelettartig, zusammengesetzt, als wäre er nach dem Stabilbaukasten-Prinzip entworfen worden. Er könnte das Spielzeug eines verrückten Riesen sein. Der N12 hat für Richard eine abstoßende Hässlichkeit, Ausdruck einer gegen menschliche Bedürfnisse verstoßenden Gigantomanie. Jedes Mal, wenn er ihn sieht, ist er empört. Es ist ein Werkzeug der Destruktion.
Richard liegt mit hinter dem Kopf verschränkten Armen im Bett, starrt zur Decke, neben ihm Iris, die ihren nackten Körper gerade in eine Seitenlage von ihm weggedreht hat. Es war ein Intermezzo der Lust. Nicht mehr und nicht weniger. Losgelöst von seinen wahren Gefühlen. Im Grunde eine Lüge. Er hat sich dazu hinreißen lassen. Ihre geschickt eingesetzten Reize betören und befeuern ihn noch immer. Ein zwar banaler, aber auch willkommener Rausch, der alles andere eine Zeit lang überdeckte. Er hat es genossen, es hat ihn entspannt, vertrauter Sex um Mitternacht, der dem Tag die Schwere nahm. Warum sollte er auch darauf verzichten? Er und Iris sind sexuell gut aufeinander eingespielt, können sich auf diese Weise noch immer genießen. Ein Paar, das voneinander enttäuscht ist, sich bereits aufgegeben hat, körperlich jedoch weiterhin anzieht. Aber seit einiger Zeit ist mehr Aggression im Spiel. Als würden sie sich gegenseitig zu einem Sex-Duell herausfordern, bei dem jeder den anderen beherrschen und besiegen will.
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