Denn alle vier waren Massenmörder und alle vier waren auch Kannibalen!
Und diese Tatsache ließ sich nun mal nicht ganz verdrängen, so sehr man es auch versuchte.
Darum blieb bei John auch nach acht Jahren dieses Gefühl des Unbehagens.
Jedoch nur Unbehagen, keine Angst.
Denn die hatte er nicht.
Die Kreaturen in diesen Zellen waren einige der gefährlichsten und grausamsten Mörder im ganzen Land und deshalb gehörten die Sicherheitsvorkehrungen in diesem Zellentrakt zu den besten, die die Technik zu bieten hatte.
Der Gang war sechs Meter breit, besaß keine Ecken und Kanten und war hell erleuchtet.
Keine Zelle lag direkt einer anderen gegenüber.
Es gab keine simplen Zellentüren, sondern zentimeterdicke Glasplatten, die nur elektronisch zu öffnen waren.
Der Zellengang wurde von sechs Videokameras überwacht und Mikrophone verbanden den Gang auch akustisch mit dem Überwachungsraum.
Es konnte also nichts passieren, zumindest in dieser Beziehung war John sicher.
So schob er den Essenswagen in die Höhe der ersten Zelle und stellte das Frühstückstablett auf die eigens hierfür entwickelte Vorrichtung.
Sie bestand aus einem Podest, das an einem hydraulischen Ausleger befestigt war. Nach dem Abstellen des Tabletts glitt der Ausleger in eine Nische in der Zellenecke, wo sich der Gefangene bedienen konnte.
John bekam den Insassen nicht zu Gesicht. Die Zelle war dunkel.
Das Zellenglas war so beschaffen, dass es Licht von außen nur wenige Zentimeter in die Zelle hineinließ.
Dies nannte sich Wahrung der Privatsphäre.
Wenn sie allein sein wollten, so sollten sie das auch dürfen.
John und seine Kollegen waren angewiesen, ihnen diese Möglichkeit auch zu lassen und nur bei Gefahr oder Verdacht das Licht einzuschalten.
Dies war im Moment nicht der Fall und so ging er weiter seiner Arbeit nach.
Auch Zelle Nr. 2 war verdunkelt.
John stellte das Tablett auf den Ausleger und die Hydraulik begann zu arbeiten.
Doch anstatt das Essen in die Zelle zu befördern, verharrte der Ausleger kurz davor.
John trat zu ihm und überprüfte die Vorrichtung.
Alles, was er erreichte, war, dass der Ausleger, sicherlich aufgrund eines Wackelkontaktes, nun wenige Zentimeter hin und her wippte.
„Scheiß Technik!“, stieß er hervor. „Ausleger Nr. 2 muss repariert werden!“
„Ich sehe es!“, hörte er Will über Lautsprecher sagen. „Werde gleich den Wartungsdienst anrufen!“
John nickte, wollte sich jedoch nicht ganz zufrieden geben und trat gegen den Ausleger.
Und plötzlich funktionierte er wieder korrekt. Beim Eintauchen in die dunkle Zelle fiel jedoch der Kaffeebecher herunter und John bückte sich, um ihn aufzuheben.
Als er wieder auf die Füße kam, tat sein Herz einen furchtbaren Satz.
Keine Dunkelheit mehr. Nur zwei große, kalte, böse Augen.
John hatte gar nicht bemerkt, wie dicht er vor die Glasplatte gelangt war.
Gefangener Nr. 2 hatte das aber sehr wohl bemerkt und sich in der Dunkelheit an die Scheibe geschlichen.
In dem Moment, da John den Kaffebecher aufhob, schaltete er das Zellenlicht an und starrte ihm ins Gesicht.
John erschrak fürchterlich und wich nach hinten aus. Dabei stieß er einen Angstschrei aus und knallte gegen den Essenswagen.
Sein Verhalten brachte dem Gefangenen Nr. 2 ein Lächeln auf die Lippen.
„Was ist los?“, fragte Will.
„Schon okay!“, sagte John, nachdem er sich wieder beruhigt hatte. „Bin ihm nur zu nahe gekommen. Meine eigene Schuld. Das sind diese gottverdammten Momente, die ich hasse. Glaubst du das?“
„Kenn ich!“, sagte Will. „Beeil dich und lass uns frühstücken!“
John antwortete nicht.
Er schob den Wagen weiter.
Die dritte Zelle war erleuchtet und ihr Insasse war gerade dabei, aufzustehen.
John sagte nichts, gab ihm sein Essen und ging weiter.
Zelle Nr. 4 war wieder verdunkelt.
John tat seine Arbeit und wollte schon wieder gehen, als er leise Geräusche hörte.
Jemand stöhnte und wimmerte. Glaubte er.
Er horchte genauer.
Tatsächlich. Gefangener Nr. 4 stöhnte, als habe er Schmerzen.
John wusste, dass dies nichts Neues war.
Entgegen aller anderen war Nr. 4 der einzig wirklich geisteskranke Gefangene.
So fand es zumindest John.
Alle anderen hatten eiskalt und emotionslos getötet. Das wusste man, sobald man in ihre Augen schaute.
Aber Nr. 4 war krank. Er konnte kaum sprechen, nicht ruhig sitzen, zuckte immer wieder unkontrolliert in den Gliedern.
Er war geisteskrank und vieles von dem, was er tat oder nicht mehr tun konnte, war Folge seiner Verletzung, die er sich bei seiner Ergreifung zugezogen hatte.
Denn in der Nacht, in der man ihn über seinem letzten Opfer fand, wurde er mit einer lebensgefährlichen Kopfverletzung ins Krankenhaus gebracht und konnte tatsächlich gerettet werden, für wen das auch immer gut gewesen sein mochte?
Die Spurensicherung ergab, dass die Kugel aus seiner eigenen Waffe stammte und es keine anderen Fingerabdrücke darauf gegeben hatte.
Niemand konnte sich das erklären und so stand im Bericht, dass er sich in jener Nacht selbst den halben Kopf weggeschossen hatte.
Für John war er anfangs ein bemitleidenswerter Mensch gewesen, denn jedesmal, wenn er ihm in die Augen schaute, glaubte er zu erkennen, dass er lieber Tod gewesen wäre.
Und doch war Nr. 4 der Gefährlichste von allen.
Allein auf sein Konto gingen 167 Todesopfer!
Doch auch hier gab es Unterschiede zu den anderen.
Die Opfer der anderen waren kaum zu identifizieren gewesen, denn das meiste von ihnen war verspeist worden.
Bei Nr. 4 war das anders.
Seine Leichen waren fast noch intakt gewesen, obwohl dieses fast unheimlich und widerwärtig zugleich war.
Nr. 4 fraß seine Opfer nicht auf, um seine Fleischeslust zu stillen.
Nr. 4 riss ihnen die Wirbelsäule aus dem Leib und das einzige, was er davon für sich behielt, war die winzige Menge Knochenmark, die sich darin befand. Und er machte sich nicht die Mühe dabei, seine Opfer vorher zu töten!
Warum, wusste niemand, denn seit seiner Ergreifung vor nunmehr schon über sechs Jahren, war niemand auch nur annähernd weit genug in ihn vorgedrungen, um herauszufinden, was ihn dazu trieb.
John wusste, Nr. 4 hatte alle diese Menschen auf diese furchtbare Art getötet, doch John wusste, sobald er in seine Augen schaute auch, dass es eine andere Wahrheit dafür geben musste, als die, das Nr. 4 geisteskrank war.
Eine viel schlimmere Wahrheit.
Deshalb empfand John auch keinen Ekel, wenn er an ihn dachte, nur ein sonderbares Mitgefühl.
Und als er ihn stöhnen hörte, wusste er, dass Nr. 4 wieder Schmerzen hatte.
Er trat einen Schritt auf die Zelle zu, um vielleicht erkennen zu können, wo Nr. 4 war, doch er sah nichts.
Er hätte jetzt Will anweisen können, das Licht einzuschalten, doch er wusste, das Nr. 4 Licht hasste.
Deshalb blieb die Zelle so gut wie immer dunkel.
Wieder hörte John ein schmerzvolles Stöhnen, diesmal etwas lauter und es schien ihm, als wäre Nr. 4 zu Boden gefallen.
Er tat erneut einen Schritt auf die Zelle zu und war nun schon fast direkt vor der Glasscheibe.
Nr. 4 schob sich an der Zellenwand wieder auf die Füße, so hörte es sich an.
Er stöhnte furchtbar und immer lauter. Oder kam er näher?
Sollte er Will informieren? Oder...?
Blitzschnell schoss Nr. 4 aus der Dunkelheit der Zelle an die Glaswand.
Und doch war dies eher ungewollt.
Noch während er auf die Wand zuschoss, verlor er das Gleichgewicht und krachte hart und unkontrolliert dagegen. Zusammengekauert, mit dem Gesicht nach unten, krümmte er sich vor Schmerzen.
John riss es fast von den Füßen. Sein Herz tat Sprünge, wie auf einem Trampolin und trieb ihm das Blut in Höchstgeschwindigkeit in den Kopf.
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