Sie schlugen ihr Lager am Rand der Straße auf. Dai-Dai mühte sich so gut es ging Bunias eine dünne Suppe einzuflößen, aber die Hälfte der Flüssigkeit tropfte unweigerlich daneben.
Es vergingen einige Stunden. Erst als der Abend hereinbrach, trat eine dunkel verhüllte Gestalt die Straße. Sorbus versuchte vergeblich hinter die Kapuze zu sehen. Das Gesicht der Person lag in dunklen Schatten. Sie war nicht sehr groß und an den Händen erkannte Sorbus, dass sie auch nicht sehr alt sein konnte.
Die Gestalt blieb in gebührender Entfernung stehen.
Dai-Dai versteckte sich hinter Sorbus und spähte nach oben. Tatsächlich, hoch oben war wieder die Gestalt der Harpyie zu sehen.
„Bist du Shendja Zweigesicht, die Heilerin?“ fragte Sorbus.
„Ja, so werde ich genannt.“
Sorbus registrierte erstaunt die Jugend, die in dieser Stimme klang.
„Ich bin Sorbus, Meistermagier und Angehöriger des großen Magierzirkels. Ich brauche die Hilfe einer Heilerin.“
Die Gestalt kam jetzt näher und wendete sich ohne weitere Fragen dem Karren zu. Vor dem Wagen blieb sie stehen und spähte hinein.
Vorsichtig versuchte Sorbus sich an ihren Geist heranzutasten. Aber er prallte gegen eine undurchsichtige Mauer und zog sich sofort zurück.
Die dunkelverhüllte Gestalt streckte den Arm aus und berührte Bunias Stirn.
„Er stirbt“, flüsterte sie und kletterte dann plötzlich auf den Wagen.
Dai-Dai beobachtete mit großen Augen, wie diese unheimliche Person wieder nach Bunias Stirn griff und dann bewegungslos verharrte.
Die Zeit verstrich. Sorbus bedeutete Naphur und Dai-Dai Geduld zu haben, und so warteten sie schweigend ab.
Als Bunias die Augen aufschlug, stieß Dai-Dai einen begeisterten Schrei aus und krabbelte zu ihm.
Sorbus näherte sich ebenfalls, aber ein warnendes Krächzen hielt ihn davon ab, die Heilerin zu berühren.
Die Harpyie schwebte jetzt bedrohlich nahe über ihren Köpfen.
Sorbus zog sich vorsichtig zurück. Mit den Klauen einer Harpyie war sicherlich nicht zu spaßen.
„Bleibt fern von ihr“, warnte er. „Die Harpyie scheint sie zu bewachen.“
„Was ist mit der Heilerin“, fragte Naphur. „Sie bewegt sich nicht.“
„Sie befindet sich im Zustand der Heilung“, erklärte Sorbus. „Heilerinnen nehmen die Krankheit in sich auf und durchleben sie, bis sie besiegt ist. Es ist eine Art Trancezustand.“
Er wendete seine Aufmerksamkeit Bunias zu. Dieser blinzelte verwirrt zu ihm auf.
„Meister“, hauchte er. „Was ist geschehen?“
„Dein Geist war zerrüttet, aber nun ist er geheilt.“
Mit wenigen Worten erzählte Sorbus seinem Meisterschüler das Geschehene. Ungläubig lauschte Bunias den Worten des Meisters und wusste nicht, was ihn mehr erstaunen sollte: Seine Heilung, oder Dai-Dais Begabung. Aber er war immer noch schwach und kaum fähig sich zu bewegen.
„Keine Sorge“, beruhigte ihn Sorbus. „Du hast zu wenig gegessen, und deine Kraft ist durch das Liegen geschwächt. Das wirst du in einigen Tagen überwunden haben.“
Es dauerte eine lange Zeit bis die Heilerin sich wieder bewegte.
Inzwischen war es dunkel geworden, und Naphur hatte ein kleines Feuer entfacht.
„Geht es dir gut?“ Meister Sorbus stellte diese Frage vorsichtig. Er wollte die Heilerin nicht beleidigen. Diese nickte und untersuchte Bunias noch einmal kurz.
„Er ist noch schwach, aber bei guter Ernährung und viel Bewegung wird er schnell wieder zu Kräften kommen“, sagte sie schließlich.
„Danke.“ Bunias versuchte sich aufzurichten. „Hab vielen Dank.“
Die Heilerin drückte ihn zurück. „Heute Nacht musst du ruhen.“
Es war mehr eine Bitte, als ein Befehl. Meister Sorbus lauschte aufmerksam dem Klang ihrer Stimme. Sie war zweifellos jung, sehr jung für eine ausgebildete Heilerin, und ihr fehlte jegliche Autorität.
„Was schulden wir dir, Shendja Zweigesicht“, fragte er. Die Heilerin schüttelte heftig den Kopf.
„Nichts. Niemand schuldet mir etwas. Aber, bitte, nennt mich nur Shendja.“
„Du magst den Namen nicht“, forschte Sorbus vorsichtig.
„Nein, aber es ist nicht so wichtig. Wie gesagt, er muss gut zu essen bekommen. Möglichst viel Fleisch und auch frische Grünkost.“
Sie machte Anstalten sich zu entfernen, aber Sorbus hielt sie zurück.
„Warte – Shendja. Teile wenigstens das Mahl mit uns. Außerdem – was können wir anstelle von Fleisch geben? Wir haben kaum etwas dabei.“
Shendja zögerte erst, aber dann gab sie sich einen sichtlichen Ruck. Sie näherte sich dem Feuer und hockte sich dort nieder.
„Es ist schwierig Fleisch durch andere Kost zu ersetzen. Seit ihr auf einer weiten Reise?“
„Wir sind auf dem Weg nach Thlandian. Eigentlich wollten wir Bunias dort heilen lassen, aber er hätte es bis dahin nicht geschafft, so dass wir, als wir von dir hörten, dich gesucht haben. Wir werden trotzdem dorthin weiterreisen.“
„Wie weit ist es nach Thlandian?“
Sorbus betrachtete sie überrascht.
„Du warst noch nie dort?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Nun, es sind noch viele Tage bis dorthin.“
„Das ist zu lang. – Er braucht dringend frische Nahrung.“ Sie überlegte kurz. Dann stand sie auf und trat vom Feuer weg.
„Erschreckt nicht. Ich rufe nur meine Freundin“, bat sie. Ein schauriges Kreischen drang aus ihrem Mund. Sekunden später rauschten große Flügel und die schwarze Harpyie landete vor ihr. Die gelben Raubvogelaugen glühten im Feuerschein. Dai-Dai kroch hinter Naphurs Rücken. Dieser saß selbst ganz erstarrt und betrachtete mit weit aufgerissenen Augen die unheimliche Vogelgestalt. Das menschliche Gesicht und das deutlich weibliche Geschlecht unterstrichen nur das Fremde in diesem Wesen.
Meister Sorbus hingegen war zwar beeindruckt, aber er verspürte keine Furcht. Er glaubte nicht, dass ihnen von dieser Kreatur Gefahr drohte. Zumindest nicht, solange sie diese seltsame Heilerin in Frieden ließen. Interessiert beobachtete er das Gespräch, das aus scheußlichem Gekrächze bestand, aber offensichtlich einer richtigen Sprache folgte.
Sorbus war fasziniert. Es war wenig von Harpyien bekannt, da sie Menschen immer gemieden, oder gar bekämpft hatten. Bisher hatte er auch noch nie davon gehört, dass es einem Menschen gelungen war, Freundschaft mit diesen wilden Geschöpfen zu schließen.
Bald darauf schwang sich die Harpyie wieder in die Lüfte und Shendja kam zum Feuer zurück.
„Skreeh wird euch Fleisch besorgen“, sagte sie. „Und ich werde euch zeigen, wie man einen Kräftigungstrank zubereitet.“
Sie wühlte in ihrem breiten Umhang und zog mehrere Kräuterbündel hervor. Unter Sorbus aufmerksamen Augen braute sie einen Trank, den sie an die kleine Dai-Dai weiterreichte.
„Gib dies deinem Freund.“
Dai-Dai gehorchte eifrig und eilte zu Bunias, der im Halbschlaf vor sich hindöste.
Shendja reichte dem Magier die Kräuterbündel.
„Nimm sie, ich habe genug Vorräte. Dies wird für ungefähr eine Woche reichen. Danach wird der Trank wohl nicht mehr von Nöten sein.“
Sorbus bedankte sich und packte die Kräuter sorgfältig ein. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder der Heilerin zu.
„Verzeih meine Neugier, aber ich möchte dir ein paar Fragen stellen.“
„Was für Fragen?“ Shendjas Stimme schwankte unsicher.
„Nun, zum einen: Welche Weise Frau war deine Lehrmeisterin?“
„Ich ... also ich kenne keine Weise Frau.“ Shendja klang verlegen. „Ara hat mich unterrichtet. Sie war hier in der Gegend die Heilerin.“
„Ara?“ Er runzelte die Stirn. „Ich habe nie von ihr gehört.“
„Na ja, sie ... hm ... sie hat mir erzählt, dass sie nie besonders gut war, ... aber das stimmt nicht. Sie ... sie war wundervoll.“
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