Noch ein Leben
1. Teil
1
„Eines Tages wird er sie wieder sehen wollen. Dann wird er sich auf die Suche machen nach Ihnen. Egal, wo Sie dann sind. Er wird alles daran setzen, Sie zu finden. Das wird vielleicht in einem Jahr sein, vielleicht erst in fünf oder zehn oder sogar zwanzig Jahren. Aber er wird versuchen, Sie wiederzufinden. Da bin ich mir sicher. So gut kenne ich meinen Sohn, dass ich Ihnen das mit 100%iger Gewissheit sagen kann...“ Das Mädchen sah den Mann mit großen, hoffnungsvollen Augen an. Sie wollte ihm einfach glauben. Sie wollte diesen kleinen, aber im Moment so wichtigen Hoffnungsschimmer behalten dürfen. Ihr Blick schweifte an ihm vorbei in weite Ferne: fünf Jahre, zehn, fünfzehn... Die Wand, in die sie starrte, fing an, vor ihren Augen zu verschwimmen und langsam aber sicher drehte sich alles um sie herum. Sie nahm nichts mehr wahr, hörte nur noch immer und immer wieder: „Er wird sie wiederfinden. Er wird sie wiederfinden. Er wird sie wiederfinden. Er wird sie...“
Sie zuckte zusammen und war plötzlich hellwach. Ihr Herz klopfte wie wahnsinnig und sie wusste, dass sich bald ein ziehender Schmerz dazu gesellen würde, wenn sie sich nicht schnell beruhigen würde. Wie immer, wenn sie Angst hatte, wanderte ihre Hand automatisch nach rechts, auf seine Seite. Ein leichter Händedruck von ihm hatte immer genügt, um sofort all ihre bösen Gedanken zu verjagen. Sie tastete sich langsam immer weiter, doch ihre Hand glitt ins Leere und sie wurde sich wieder einmal schmerzhaft bewusst, dass er nicht mehr da war.
Er war nicht mehr da und würde es nie wieder sein. Seit jenem Morgen, an dem er plötzlich einen Herzinfarkt bekommen und die Kontrolle über sein Auto verloren hatte. Einfach so, keine fünf Minuten von ihr weg. Einfach so, aus heiterem Himmel. Ohne Vorwarnung. Man hatte ihn ihr einfach weggenommen. Und auch wenn sie sich immer und immer wieder einredete, dass es so sein musste, dass seine Zeit gekommen war, dass er wenigstens nicht lange hatte leiden müssen, trotz alle dem schaffte sie es nicht, auch nur einmal an diesen Tag zurückzudenken, ohne dass ihr die Tränen in die Augen schossen.
Auch jetzt fuhr sie sich wieder verstohlen mit dem Handrücken übers Gesicht und stieß einen großen Stossseufzer aus. „Ich schaffe es einfach nicht ohne dich. Du fehlst mir so sehr...“ murmelte sie. Und ihr Blick wanderte hilflos von einer Ecke des Zimmers in die andere. Alles hier erinnerte an ihn. Jede Kleinigkeit, jeder Winkel. Einfach alles. Es wurde ihr mit jedem Tag schmerzlicher bewusst, wie sehr er ihr fehlte, wie sehr sie ihn geliebt hatte!
Jeden Abend schlief sie ein mit der Hoffnung, nicht mehr aufzuwachen und ihn für immer wiederzufinden, dort, wo er jetzt war. Und jeden Morgen wachte sie mit derselben Enttäuschung auf: sie war da, aber er war es nicht mehr. Sie war allein. Ohne seinen Halt, den er ihr 30 Jahre lang gegeben hatte.
Sie stand auf und ging ins Bad, wusch sich, zog sich an, ging in die Küche und machte sich ein Frühstück, dass sie lustlos herunterschluckte, um etwas im Magen zu haben. Sie dachte an den Traum zurück, der sie heute so unsanft geweckt hatte. Seit seinem Tod war sie oft unsanft aufgewacht aus Alpträumen, in denen sie ihn immer und immer wieder vor sich sah, wie er ihr ein letztes Mal zulächelte, bevor er um die Ecke verschwand und nie wieder zurück kam. Am Anfang hatte sie diese Alpträume fast täglich gehabt, in letzter Zeit ein wenig seltener, aber immer noch mit derselben Intensität, demselben Schmerz, der so tief in sie eindrang, das sie glaubte, man würde ihr eine Nadel durchs Herz jagen.
Doch der Traum von heute Nacht war neu. Er hatte nichts mit ihm zu tun. Er war wie aus einem anderen Leben. Und doch war es ihr Traum. Sie war das junge Mädchen in dem Traum. Da war sie sich ganz sicher. Aber sie verstand den Zusammenhang nicht. Das Bild kam ihr merkwürdig vertraut, bekannt vor, aber sie konnte es im Moment noch nicht einordnen. Alles, was sie wusste, war, dass sie am Ende des Traums Angst verspürt hatte. Dass sie das Versprechen, das dem jungen Mädchen hatte Hoffnung machen sollen, vielmehr als Bedrohung empfunden hatte.
Sie schüttelte den Kopf. Alles Unsinn. Sicher hatte ihr da einfach nur ihr Unterbewusstsein einen Streich gespielt und den ganzen Mist, den sie den ganzen Tag lang im Fernsehen sah und in den Zeitungen las, in einen zusammenhanglosen Traum gepackt. Kein Wunder! Um nicht ständig an seinen Tod zu denken und über die Sinnlosigkeit ihres Lebens ohne ihn zu grübeln, versuchte sie sich so gut wie möglich abzulenken. Und so starrte sie stundenlang ins Fernsehen oder las irgendwelche Klatschblätter, die sie auf dem Weg zurück vom Bäcker kaufte.
Sie war erst seit kurzem in Rente. Hatte also den ganzen Tag Zeit, Dinge zu tun, zu denen sie jetzt, da er nicht mehr da war, gar keine Lust mehr hatte. Auch er hätte dieses Jahr aufgehört zu arbeiten. Was hätten sie alles gemeinsam machen können! Wie viele Pläne hatten sie schon geschmiedet für die Zeit „danach“. Sie waren doch noch jung! Anfang sechzig, das war doch kein Alter! Und gesundheitlich hatten sie beide nie Probleme gehabt. Schwächen hier und da, die das Leben eben so mit sich brachte. Aber ansonsten waren sie rundum gesund, in den besten Jahren, wie man so schön sagte...
Bis zu jenem Morgen vor einem Jahr... Ein Jahr. So lange war das jetzt schon her. Ihr kam es vor, als sei es erst gestern gewesen. Und es tat immer noch so weh, als sei es erst gestern gewesen. Der Schmerz wollte einfach nicht nachlassen. Die tiefe Wunde, die dieser Verlust in sie eingerissen hatte, wollte einfach nicht verheilen. Und wenn sie ehrlich war, wollte sie auch gar nicht, dass sie verheilte. Sie wollte kein Leben ohne ihn, sie wollte nicht neu anfangen müssen! Sie fühlte sich einfach nicht stark genug dafür, hatte nicht die nötig Kraft dazu! Und so ließ sie sich immer mehr gehen. Verschloss sich gegenüber den anderen. All denen, die versuchten, sie wieder aufzupäppeln. Sie herauszuholen aus dieser tiefen Trauer, der sie sich völlig hingab in der Hoffnung, bald für immer bei ihm sein zu können.
2
„Ich will nicht, dass Omi stirbt!“ sagte Lisa mit Tränen in den Augen. Erstaunt drehte sich ihre Mutter zu ihr um: „Aber Mäuschen, warum sollte Omi denn sterben?“ „Weil sie Opa so vermisst und nicht ohne ihn sein will!“ Lisa versuchte vergeblich den Kloß herunterzuschlucken, der sich in ihrem Hals gebildet hatte. Sie wollte nicht losheulen, aber sie fühlte sich so hilflos. Ihre Mutter versuchte sie zu beruhigen: „Aber Omi geht es gut. Sie ist völlig gesund. Natürlich ist sie traurig, weil Opa gestorben ist, aber das wird sich mit der Zeit geben. Du wirst sehen, mit jedem Tag, der vergeht, wird es ihr ein bisschen besser gehen und dann wird sie auch wieder fröhlich sein können und mit uns lachen, so wie vorher, als Opa noch da war.“ Lisa sah ihre Mutter mit großen Augen an und runzelte die Stirn. „Ich finde nicht, dass es ihr jedes Mal ein bisschen besser geht, wenn wir sie am Telefon haben. Im Gegenteil, sie hört sich immer trauriger an.“
Wie gerne hätte Lisas Mutter ihrer Tochter etwas entgegen gehalten. Aber unbewusst musste sie ihr recht geben. Ihr kleines Mädchen von gerade mal zehn Jahren sprach das aus, was ihr selbst seit einigen Wochen immer schwerer auf dem Herzen lag: Ihrer Mutter, Lisas Omi, ging es nicht gut. Natürlich war die erste Zeit nach dem plötzlichen Tod eines geliebten Menschen schwer. Sehr schwer. Sie selbst vermisste ihren Vater mehr als sie es jemals für möglich gehalten hätte. Aber in den letzten Wochen hatte sie das Gefühl, dass ihre Mutter erst gar nicht mehr versuchte, ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen. Lisa hatte recht: „Omi“ war auf dem besten Wege, ihren Lebenswillen völlig zu verlieren. Und wenn sie sich weiter so gehen lassen würde, würde es nicht lange dauern, bis auch sie nicht mehr unter ihnen wäre. Solche Geschichten waren nicht selten. Dass Partner, die ihr ganzes Leben gemeinsam verbracht hatten, sich nach dem Tod des anderen aufgaben und kurz darauf selbst starben, weil sie ohne den anderen im wahrsten Sinne des Wortes nicht leben konnten.
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