Wenn sie ganz ehrlich war, dann hatte sie ganz einfach Angst. Eine Heidenangst! Davor, wieder von vorne anfangen zu müssen. Davor, immer wieder auf Leute zu stoßen, die sie auf ihren Mann ansprachen und somit die Wunde immer wieder aufs Neue aufreißen würden. Und ein bisschen hatte sie auch Angst vor dem Tag, an dem die Erinnerungen an ihn anfangen würden zu verblassen...
Sie hatte gerade ihren Kaffee ausgetrunken, als das Telefon klingelte. Auch wenn sie heute Morgen zum ersten Mal seit seinem Tod ernsthaft damit angefangen hatte, sich mit der Idee auseinander zu setzen, dass ihr Leben ohne ihn weiterging -weitergehen musste, so war sie noch nicht bereit, diese Idee mit jemandem zu teilen, schon gar nicht mit all denen, die ihr seit Monaten genau dies immer wieder ans Herz legten!
Deshalb nahm sie nicht ab und ließ den Anrufbeantworter laufen: „Hallo Omi, hier ist Lisa.“ hörte sie ihre Enkelin flüstern und bereute es sofort, nicht abgenommen zu haben. „Wollte dir nur ganz kurz sagen, dass ich vorhabe, die Schulferien bei dir zu verbringen, aber Mami und Papi wissen noch nichts davon. Kannst du das nicht irgendwie hinbekommen, dass sie einverstanden sind?“ Kurze Pause und dann plötzlich: „Mist, Mami ist im Anmarsch, muss auflegen. Tschüss, bis bald!“
Sie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. So klein und schon so gewitzt! Wenn Lisa sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann zog sie es auch durch. Schon als Baby hatte sie alle immer so lange auf Trab gehalten, bis sie das, was sie wollte, auch bekam, ob das nun ihr Fläschchen, eine neue Windel oder Mamis Arm zum Einschlafen war.
Vor dem Tod ihres Mannes war Lisa öfter in den Schulferien zu ihnen gekommen. Sie hatte sich mit ihrem Opa immer sehr gut verstanden und manchmal hatte sie die beiden stundenlang nicht mehr zu Gesicht bekommen, weil sie irgendwo in einem Geschäft oder beim Spazieren gehen die Zeit völlig vergessen hatten. Allein bei dem Gedanken daran kamen ihr schon wieder die Tränen in die Augen und ihr guter Vorsatz von heute Morgen, endlich nach vorne zu schauen, erschien ihr wieder einmal völlig unmöglich.
Sie setzte sich in ihren Lieblingssessel und stieß einen tiefen Seufzer aus. Was würde sie ihrer Enkelin überhaupt noch bieten können, jetzt, da er nicht mehr da war? Und würde sie es überhaupt schaffen, eine ganze Woche lang gute Laune vorzuspielen, wenn sie doch, wie gerade jetzt mal wieder, schon bei der kleinsten Erinnerung an ihn, anfing zu weinen? Sie schüttelte traurig den Kopf. ‚Nein, Lisa’, dachte sie, ‚Ich kann dir nicht das bieten, was du möchtest. Ich bin nicht stark genug dazu!’
Doch wie sollte sie das ihrer Enkelin bloß beibringen? Hanna stieß erneut einen Seufzer aus. Und was, wenn sie sich doch darauf einlassen würde? Was, wenn das vielleicht genau der Ausweg war, auf den sie so lange vergeblich gewartet hatte? Was, wenn diese Woche zu zweit ihr den Weg aus ihrem dunklen Tunnel, in dem sie sich seit dem Tod ihres Mannes befand, ermöglichen würde? War es nicht vielleicht genau das, was sie brauchte, um ihre Trauer endgültig zu besiegen? Eine Woche lang so zu leben wie vorher? Als wäre nichts geschehen, als würde das Leben einfach so weitergehen. Eine ganze Woche lang, und nicht nur einen Tag, an dem man abends all das, was sich angestaut hatte, einfach so wieder in einem Tränenbach laufen lassen konnte, sobald das Auto ihrer Tochter um die Ecke gebogen war.
Denn dieser Tatsache musste sie nun einmal ins Auge schauen: das Leben ging weiter und sie würde sich nicht ewig hinter ihrer Trauer verschanzen können! Eine Woche mit Lisa. Mit ihr all das machen, was sie das ganze letzte Jahr vermieden hatte: unter Leute gehen, Nachbarn zu sich einladen oder deren Einladungen annehmen, einen schönen Film im Kino schauen, lachen! All diese Dinge, zu denen sie seit dem Tod ihres Mannes nicht mehr in der Lage gewesen war, mit Lisa würden sie ihr sicher leichter fallen. Eine Woche mit ihrer Enkelin...
Ja, wenn sie es sich richtig überlegte, war das vielleicht gar nicht so verkehrt. Sie würde endlich den ersten Schritt aus ihrer Lethargie wagen können, auf den Chris schon so lange wartete. Sie würde sich langsam, mit jedem Tag ein bisschen mehr daran gewöhnen können. Und vielleicht würde sie ja am Ende dieser Woche wieder Gefallen daran finden. Vielleicht hätte sie dann endlich den Weg zurück ins Leben geschafft. Dieses Leben, das sie ohne ihn nicht hatte weiterleben wollen, aber das nun einmal da war und dem sie die Stirn bieten musste!
Ja, sie würde Lisa zu sich holen über die Ferien. Denn diese Chance, ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen, durfte sie sich einfach nicht entgehen lassen!
6
Annabel saß am Küchentisch und sah sich die Stellenanzeigen in der Zeitung an. Seit Lisas Geburt hatte sie keine Ganztagsstelle mehr gehabt. Sie hatte zwar hin und wieder halbtags oder aushilfsmäßig gearbeitet, um das Gehalt ihres Mannes– so gut es auch war – ein wenig aufzustocken, aber den letzten festen Arbeitsplatz hatte sie aufgegeben, als sie mit Lisa in Mutterschutz gegangen war. Das war jetzt schon über zehn Jahre her. Wie schnell die Zeit verging! Sie hätte gerne noch ein zweites Kind gehabt, nachdem sie ihre Karriere sowieso schon aufgegeben hatte, aber die Natur hatte es einfach nicht so gewollt. Und je unerfüllter der Wunsch nach einem zweiten Kind blieb, desto weiter hatte sie sich von ihrem Mann entfernt. So weit, dass es mittlerweile geradezu einem Wunder gleich käme, wäre sie jetzt noch schwanger geworden.
Sie überlegte, wann sie überhaupt das letzte Mal zusammen geschlafen hatten. Das musste schon ein paar Wochen her sein, oder waren es sogar schon Monate? In letzter Zeit schafften sie es einfach nicht mehr, miteinander zu reden, ohne gleich aneinander zu geraten. Und wenn sie sich erst einmal gestritten hatten, hatte weder sie noch er Lust, in irgendeiner Weise aufeinander zuzugehen, und schon gar nicht intim zu werden!
‚Was war nur schief gelaufen?’ grübelte Annabel. Wieso hatten sie sich so weit voneinander entfernt? Wieso konnten sie keinen vernünftigen Dialog mehr führen? ‚Wie können wir bloß einen Ausweg aus diesem Teufelskreis finden?’ flüsterte sie vor sich hin und eine Träne lief ihr übers Gesicht. ‚Ich will ihn nicht verlieren!’
Es war alles so viel einfacher, wenn sie sich nicht gegenüber saßen. Dann konnte sie zugeben, dass sie ihn brauchte, dass er ihr fehlte, wenn er nicht da war, und dass sie sich wünschte, dass er sich ein wenig mehr Zeit nehmen könnte. Einfach einen Schritt kürzer trat auf der Arbeit. Genau das war es, was sie wollte. Wahrscheinlich war auch das der Grund, wieso sie über diesen Stellenanzeigen hing. Vielleicht würde er ja weniger arbeiten können, wenn sie wieder regelmäßig ein zweites Gehalt nach Hause brachte. Lisa war mittlerweile groß genug. Sie könnte endlich wieder eine feste Stelle suchen, nicht nur eine vorübergehende Stellvertretung. Vielleicht erst mal nur halbtags, aber das wäre immerhin schon mal ein Ansatz, damit Harald weniger Überstunden zu machen brauchte.
Denn wenn er in letzter Zeit immer mehr Überstunden machte, dann war das sicher auch eine Frage des Geldes. Es waren seine Überstunden, die es ihnen ermöglichten so zu leben, wie es momentan der Fall war, d.h. in einem wunderschönen Haus mit Garten und nicht eingeengt in einer kleinen Dreizimmerwohnung wie zu Anfang ihrer Ehe...
Entschlossen nahm Annabel die Zeitung wieder in die Hand und wischte sich die Tränen weg. Nächstes Wochenende, nahm sie sich vor, würde sie mit Harald reden. Sie würde ihm sagen, dass sie sich wieder nach einer richtigen Arbeit umsah. Dass sie ihn entlasten wollte, damit sie wieder mehr Zeit miteinander verbringen würden. Sie beide und natürlich auch mit Lisa. Sie würde ihm alles sagen, was sich in den letzten Wochen in ihr angestaut hatte. In Ruhe und vor allem in aller Offenheit. Ihm sagen, dass sie sich in letzter Zeit immer öfter allein gelassen fühlte und Angst hatte, ihn zu verlieren!
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