"Kannst Du Gedanken lesen?" fragte sie ihn unsicher.
Er blickte sie ganz listig an. "Was meinst Du mit „Gedanken lesen“?
Ich habe Dir nur ganz normal geantwortet!"
Anscheinend wusste der Drache gar nichts mehr von seinen besonderen Fähigkeiten, hatte sie vergessen, verdrängt. Er war, solange er zurück denken mochte, alleine gewesen. Es war für ihn selbst schon fast eine Überraschung gewesen, dass er sprechen konnte. Und dass er sich an seinen Namen erinnert hatte.
Als Anette klar wurde, dass der Drache bisher gar niemanden zum Reden gehabt hatte, war sie ganz gerührt. Nun tat er ihr ein bisschen leid, aber eigentlich fing sie an, ihn lieb zu gewinnen, so wie er da vor ihr lag, sie so vertrauensvoll mit richtigen Kinderaugen anschaute und zutraulich wie ein Schoßhund ihr Streicheln und Kraulen genoss. Und er war offenbar einsam, - so wie sie.
Na ja, nicht ganz.
Ihr Gefährte Robert wartete immer auf sie und eigentlich fühlte sie sich in seiner Hütte und in seinem Arm ganz geborgen. Obwohl es ihr in Wahrheit nichts mehr bedeutete.
Deshalb suchte sie die Einsamkeit des Berges, verschloss sich vor anderen Menschen ohne ihnen aber vollkommen aus dem Weg zu gehen; es war wie eine Art Trauer, die sie mit sich herumtrug. Und eine unbewusste, unbestimmte Sehnsucht, die sie mit dem Blick in die Ferne, ins weite Tal hinein zu stillen suchte.
"Gut, ich will Deine Freundin sein", sprach sie ein wenig feierlich, so wie bei einem Versprechen.
Der Drache schmiegte seine linke Wange an ihre Taille und schielte nach oben in ihre großen Augen. Er war glücklich. Er hatte eine wunderschöne, junge Frau als Freundin gewonnen.
In seinen alten Drachenbüchern hatte er über Vorfahren gelesen, die auch mit schönen, jungen Frauen zu tun gehabt hatten, sogar mit Prinzessinnen, aber die hatten sie meistens nur aufgefressen, in Mengen.
Das konnte er gar nicht verstehen. Zum einen, weil er ja sowieso meistens Vegetarier war und zum anderen: So etwas Schönes wie eine junge Frau frisst man nicht!
Nun würde er nie mehr einsam sein, dachte er verträumt, als seine Gedanken wieder zu seiner neuen Freundin zurückfanden.
"Wie alt bist Du denn?" fragte Anette ganz unvermittelt.
Was die so alles wissen will, überlegte der Drache.
Die Frage hatte ihn ganz schön in Verlegenheit gebracht. Die Beschäftigung mit Vergangenem erzeugte jedes Mal eine ihm unerklärliche innere Glut; so kräuselten sich nun kleine orangefarbene Wölkchen und gelegentlich auch Rauchringe aus seinen daumenbreiten Nüstern, während er versuchte, seine Lebensjahre zusammen zu zählen. Wo sollte er da am besten anfangen?
Er erinnerte sich nur sehr dunkel an die Zeit, als er ein noch kleiner Drache war, mit seinen 12 schwarzen Geschwistern spielte, die ihn dauernd ärgerten, weil es ihm von dem Ziegenfleisch, mit dem sie von ihren Eltern versorgt wurden, immer schlecht wurde.
"Der Willi kotzt mal wieder", hieß es oft, wenn er von den Dracheneltern in der Runde des gierig schmausenden Nachwuchses vermisst wurde. Am liebsten ernährte er sich vegetarisch. So gab es auch jedes Mal riesigen Ärger, wenn Vater Hervín mit dem Drachennachwuchs übte, die Mahlzeit selbst zu töten; Willi stahl sich derweil davon, um die ärmlichen Felder der Bauern zu plündern.
Außerdem taten ihm die Ziegen leid.
Das sei eines Drachens nicht würdig, hatte der strenge Vater immer wieder gesagt. Aber wie lange war das her?
Die Lebensabschnitte bei Drachen dehnen sich wesentlich länger als bei Menschen!
Er erinnerte sich, dass eine alte Drachentante einmal zu ihm gesagt hatte, er sei jetzt mit seinen 250 Jahren erwachsen und könne langsam anfangen, darüber nachzudenken, sich eine eigene Höhle zu suchen.
Bis dahin war er - als letzter seiner Geschwister - immer in der Höhle der Alten gewesen.
Die hatten es mit ihm schon aufgegeben.
Er war einfach anders als die anderen; seine Essgewohnheiten waren nur ein Beispiel. Sein ganzes Verhalten und vor allem die fast weiße Haut ließen keinen Zweifel daran, dass er "anders" war.
Hervín schüttelte immer wieder verzweifelt sein mächtiges Haupt über seinen "Betriebsunfall", wie er Willi manchmal nannte. Ein richtiger Schwarzer Drache wie er selbst würde Willi wohl nie werden und es war sogar zu erwarten, dass er seinen Vorfahren nach geraten könnte.
Die Eltern wussten noch, dass sie als „Weiße Drachen“ einstmals große, magische Kräfte besessen hatten, und dieser Gedanke bereitete ihnen keine geringe Sorge.
Willi interessierte sich inzwischen jedoch viel mehr für die Schmetterlinge in einer Wiese, die lustigen Käfer und die schönen, duftenden Blumen, als für irgendwelche langweiligen Ziegen. Er selbst ahnte indessen nicht im Geringsten, was alles in ihm stecken könnte.
Zunächst nur mit Widerwillen erlernte er die Kunst des Feuerspeiens, als er es dann aber konnte, machte er - aus der Sicht seiner Dracheneltern - nur Blödsinn mit dieser Gabe.
Er suchte die Nähe von Menschen, und anstatt sie gehörig zu erschrecken, versuchte er, mit ihnen zu plaudern und zündete ihnen mit seinem Feuerstoß schon mal das Lagerfeuer an.
Ähnlich war’s dann auch mit dem Fliegen.
Willi wollte erst einmal zum Verplatzen nicht fliegen lernen, er hatte einfach unheimliche Angst, keinen Boden unter den Pranken zu haben und schwindelig zu werden.
Während seine Geschwister schon jahrelang den Himmel unsicher machten, saß er immer noch zitternd auf der Felsnase, von der aus er starten sollte. Jeden Tag aufs Neue redeten die Eltern auf ihn ein wie auf einen kranken Gaul, schimpften, bettelten, drohten, es half alles nichts.
Erst als er wieder einmal auf dem Campo Schmetterlingen nachjagte und er dabei auf ein paar Menschenkinder traf, deren Papierdrachen sich hoch in einer Palme verfangen hatte, reckte er plötzlich seine Flügel, schwebte vorsichtig erst ein wenig auf der Stelle und stieg dann mit einem Jauchzer des Triumphs hoch in die Luft. Schnell hatte er begriffen, wie das mit dem Fliegen funktionierte, flatterte zu der Palme und pflückte seinen Papierkollegen ganz vorsichtig aus den Wedeln.
Dass ihm dies gelungen war, freute ihn aber derart, dass er aus Versehen ein klein wenig Feuer spuckte, was dem Spielzeugdrachen gar nicht gut bekam. Aber die Kinder waren sowieso schon längst vor Schreck ausgerissen und er saß ganz enttäuscht, die noch glimmenden Reste im Maul, allein im verdorrten Gras.
Nun konnte er fliegen und die Eltern wünschten bald, er hätte es nie gelernt.
Wieder machte er nur dummes Zeug.
Wenn seine Geschwister "Verstecken" spielen wollten, oder für einen "Überfall" auf der Lauer lagen, kam Willi im Sturzflug herangerauscht, kreiste über den so enttarnten Geschwistern und kicherte oder rülpste so lange, bis deren Spiel geplatzt war.
Seine Geschwister hassten ihn dafür!
Oder wenn die Alten einmal ihre Ruhe haben wollten und sich vor ihrer Höhle in der Sonne ausstreckten, kam der übermütige Jungdrache mit einem Maul voll Meerwasser - gut und gern die Menge eins großen Eimers - und spukte es über ihnen aus, sodass es wie ein Platzregen auf sie niederprasselte.
Und dies, obwohl "normale" Drachen Wasser doch so hassen!
Hundertmal hatten ihm die Eltern erklärt, dass Feuer und Wasser Gegensätze wären. Drachen seien Feuerwesen und sollten - außer beim vorsichtigen Trinken - mit Wasser möglichst nicht in Berührung kommen; Willi war aber nicht umzustimmen.
Als einziger Drache badete er sogar manchmal und Schwimmen machte ihm riesigen Spaß!
Einmal hätte er beinahe sogar sein inneres Feuer vollkommen ausgelöscht, als er sich aus ein paar Metern Höhe in Strandnähe ins Wasser plumpsen ließ, um andere Drachen, die am Strand im warmen Sand lagen und sich sonnten, eine gehörige Dusche zu verpassen.
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