Hamburg, 26. Jan. 2016
vor vielen, vielen Jahren verlor ich dich. Wie dich heute gewinnen? Du hast zwei Halbschwestern: Sarah steht mitten im Abitur und Katja wurde vor zwei Wochen 17 Jahre alt. Wie ich sie beide kenne, würden sie dich schnell gewinnen. Aber ich? Ich bin dir so fern wie der Mond und so fremd wie der Mann im Mond und mit meinen 75 Jahren fast so alt wie der Mond. Ich hoffe, meine Mondgeschichten werden mich dir ein wenig näher bringen. Jedenfalls ist das ihr Sinn.
Die erste Geschichte betrifft meinen Hund, der Blackberries hieß. Eine Kuh wäre vielleicht der bessere Einstieg, denn es soll eine Kuh gegeben haben, die über den Mond sprang. Aber Blackberries gab mir Dinge zu verstehen, die eine Kuh mich nicht hätte besser lehren können.
Dein Vater
Blackberries war der Name eines Hundes, der zu sieben Achteln Deutscher Schäferhund und zu einem Achtel Mackenzie-River-Wolf war. Ich hatte ihn im Jahre 1971 als Welpen erhalten, und eigentlich hatte ich ihn Strawberries nennen wollen, aber der Name war schon an einen anderen Hund in der Gegend vergeben. Und so nannte ich ihn Blackberries. Ich wohnte in einer alten Scheune, keine drei Meilen ‘up the Mendocino Ridge Road’, drei Counties nördlich von San Francisco. Eine Bekannte hatte mir ihre kleine Farm zur Verfügung gestellt, die andernfalls leer und verlassen gestanden hätte. Sie vertraute mir, obwohl ich nichts besaß außer dem Wenigen, das ein Aussteiger jener Zeit so hatte, und dazu hatte Blackberries gehört.
Ich hatte außerdem eine Katze. Sie hieß Kitty. Kitty hatte drei kleine Kätzchen. Die waren super süß, besonders eines der drei. Kleiner als meine Faust war es, keck und kiebig. Es fauchte gern und ausgiebig. Alle drei waren ganz schön wild. Eines Abends war ich, bevor ich nach Hause kam, beim Schlachter in Mendocino gewesen. Man schrieb mittlerweile das Jahr 1973, noch immer tiefste Hippiezeit, und beim Schlachter bekam ich Knochen und Fleischreste fast umsonst. Ich kam also mit einer großen Tüte Raubtiernahrung nach Hause, und jedes Tier bekam eine gehörige Portion. Für eine Weile war die ländliche Stille mit Schmatzen und Zerren und auch mal mit Lauterem gefüllt, wenn Blackberries den Knochen krachen ließ. Er war ein wunderschöner Rüde, mit einer Halskrause wie ein Löwe und mit dem schwarzen Fleck auf der Schwanzwurzel, wie es sich für einen Ein-Achtel-Mackenzie-River-Wolf gehört. Alle wurden satt. Die Mutterkatze machte Katzenwäsche, zweien der kleinen Kätzchen fielen schon die Augen zu und auch Blackberries war zufrieden. Er streckte sich, hechelte ein wenig – es war ein warmer Abend im September –, schaute sich in der Scheune um und sah, wie das eine Kätzchen immer noch an einem (verglichen zum Kätzchen) großen Knochen nagte.
Blackberries war satt, aber interessiert. Also schlenderte er dorthin, wo das Kätzchen mit dem relativ großen Knochen war. Als er vor ihr stand (sie war eine Miss), fauchte sie ihn an. Und wie sie fauchte! Er blieb ungerührt, und als beim Hecheln ein wenig Speichel tropfte, fuhr er sich mit der Zunge über die Lefzen. Dann drehte er um, ging ohne Hast und so gemütlich, wie er gekommen war, zur Mutterkatze, die sich putzte, nahm sie ins Maul, tat ihr nichts, hob sie einfach hoch, woraufhin sie einen klagenden Laut von sich gab. Die drei Kätzchen verschwanden wie „Rette sich, wer kann“, und natürlich nahm die kleine Miss den relativ großen Knochen nicht mit. Der Knochen blieb liegen. Da setzte Blackberries die Mutterkatze behutsam wieder ab, ging hinüber, wo der Knochen lag, und begann ihn zu verspeisen. Mir aber blieb der Mund offen stehen: was für ein Psychologe, der Wolf in ihm!
Blackberries wusste etwas, das zu lernen wir Menschen viele Jahre auf die Universität gehen. Er wusste, was dem Kätzchen Sicherheit gegeben hatte. Wir studieren die Dinge von außen, er sah die Schöpfung von innen. Wir fügen mit großer Mühe die Teile eines Puzzles zusammen, er sah sofort das ganze Bild und sah es so selbstverständlich, wie die Störche ohne GPS nach Afrika fliegen. Wir rühmen uns der Dinge, die wir wissen, und wissen doch so wenig. Wir nutzen das Fernrohr und das Mikroskop und schauen wie die Voyeure die Schöpfung an. Wir stellen Thesen auf, verwerfen, korrigieren und nähern uns den Dingen auf ähnliche Weise, wie wir das Pi für den Kreisumfang fanden. Der Wolf in meinem Hund wusste das alles schon. Er ruhte wie Mutter Erde in sich selbst. Er sah den Kreis von innen und wusste, dass die Mitte die Mutter war.
Wir aber sind der Klumpen Ton, der auf der Töpferscheibe des Lebens aus der Mitte rutschte und seither auf kafkaeske Weise die Mitte sucht. Wir ruhen nicht in uns selbst. Wir sind die Meister der Gerüste und Methoden. Keine Kuh braucht Yoga, kein Stier die Physik, um zu wissen, dass wir in Größerem geborgen sind.
2. Eine erste Mondgeschichte
Ich bin ein Laie, der sich Gedanken macht. Die Wissenschaft der Physik studiert die älteste Phase dessen, was die einen Evolution und die anderen Schöpfung nennen. Die Physik dreht sich um die ältesten Gesetze im All. Es gibt keinen größeren zeitlichen Abstand im Universum als den Abstand zwischen der Wissenschaft der Physik und dem, was die Wissenschaft der Physik studiert.
Mit dem Big Bang und dessen Verarbeitung kamen die physikalischen Gesetze ins Sein. Erst danach traten die Gesetze der Chemie in Kraft. Die Gesetze der Chemie wurden sozusagen erst in einem zweiten Schritt erlassen. Auf die Gesetze der Chemie folgten die der Biologie, zunächst der Flora, dann der Fauna. Und zuletzt kamen wir, die wir fähig sind, auf objektive Weise und losgelöst von uns selbst zu betrachten, was zeitlich vor uns geschah. Von den Bergeshöhen unserer Universitäten schauen wir zurück auf den Weg, der in die Gegenwart führte. Und ja, wir bilden uns unglaublich viel auf unser Vermögen ein, die Dinge objektiv und sozusagen von oben herab zu betrachten und sind überzeugt, mit Hilfe der Evolutionstheorie der Vergangenheit auf der Spur zu sein. Aber die Sache hat einen Haken. Den Haken der Einseitigkeit. Denn der Geist der Wissenschaften verweigerte der Seele das Recht, auf der Spurensuche dabei zu sein. Im Reich der Wissenschaften wurde die Seele entmachtet, ganz ähnlich wie früher die Frau, der man nicht zutraute, im Herrensitz ein Pferd zu reiten oder Männersachen verstehen zu können.
Außer als Studiumsobjekt ihrer Einflussnahme auf das menschliche Verhalten hat die Seele im Reich der Wissenschaften keinen Platz. Sie wurde hinausgeworfen aus den Gremien, die die Universitäten leiten. Als Inbegriff des Subjektiven wurde der menschlichen Seele die Autorität entzogen, Mitspracherecht in der Forschung zu haben (mit vielleicht ein paar Zugeständnissen in Sachen Intuition). Im Reich der Wissenschaften hat der menschliche Geist das Autoritätsmonopol. Der Geist der Wissenschaft ist ein eifersüchtiger Geist.
Jedes System, das wir Menschen schufen, impliziert ein Autoritätssystem. Kein Automobil läuft ohne Steuerung und keine Steuerung ohne einen Menschen am Steuer (oder hinter dem Programm der Steuerung). Auch alle unsere gesellschaftlichen Systeme implizieren Autoritätssysteme. Das Staatswesen ist das vielleicht beeindruckendste Autoritätssystem, das wir Menschen schufen. Des Staates Institutionen – das Rechtswesen, das Finanz-, Schul-, Polizeiwesen usw. – sind alles Autoritätssysteme. Und das Universitätswesen gehört auch dazu. Ohne ein Autoritätssystem hinter sich haben menschliche Worte selten Kraft.
Jedes Gesetz, geschrieben oder ungeschrieben, ob erlassen von unseren Vorfahren, vom König, vom Senat, vom Parlament oder einem Gremium ist Ausdruck der Autorität der Vorfahren, des Königs, des Senats, des Parlaments oder des Gremiums. Der Punkt ist, dass unsere Gesetze deshalb Autorität besitzen, weil hinter ihnen ein Gesetzgeber steht. Das gilt für alle unsere Institutionen. Aber was für uns und unsere Gesellschaft als selbstverständlich gilt, das sprechen unsere Universitäten den Gesetzen des Universums ab. Die Evolutionstheorie lehrt, dass das Universum von Gesetzen regiert wird, hinter denen keine Autorität stehe. Wie schizophren kann man denken?
Читать дальше