Rainer Rilke - Geschichten vom lieben Gott

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Was tun wohl gerade die Hände vom lieben Gott? Und könnte Gott sich vielleicht sogar in einem kleinen Fingerhut verstecken? In diesen heiter-ironischen und zugleich nachdenklich stimmenden Geschichten spürt Rainer Maria Rilke diesen und anderen Fragen nach. Inspiration für den großen Dichter lieferten ebenso die Geschichten der Bibel wie auch seine Reisen an die unterschiedlichsten Orte der Welt. Die hier ausgewählten, farbig illustrierten Episoden sind ein wahres Lesevergnügen.

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Geschichten vom lieben Gott

Rainer Maria Rilke

Inhaltsverzeichnis

DER FREMDE MANN

WARUM DER LIEBE GOTT WILL, DASS ES ARME LEUTE GIBT

WIE DER VERRAT NACH RUSSLAND KAM

WIE DER ALTE TIMOFEI SINGEND STARB

DAS LIED VON DER GERECHTIGKEIT

EINE SZENE AUS DEM GHETTO VON VENEDIG

VON EINEM, DER DIE STEINE BELAUSCHT

WIE DER FINGERHUT DAZU KAM, DER LIEBE GOTT ZU SEIN

EIN MÄRCHEN VOM TOD UND EINE FREMDE NACHSCHRIFT DAZU

Impressum

MEINE FREUNDIN, EINMAL HABE ICH DIESES BUCH IN IHRE HÄNDE GELEGT, UND SIE HABEN ES LIEB GEHABT WIE NIEMAND VORHER. SO HABE ICH MICH DARAN GEWÖHNT, ZU DENKEN, DASS ES IHNEN GEHÖRT. DULDEN SIE DESHALB, DASS ICH NICHT ALLEIN IN IHR EIGENES BUCH, SONDERN IN ALLE BÜCHER DIESER NEUEN AUSGABE IHREN NAMEN SCHREIBE; DASS ICH SCHREIBE:

DIE GESCHICHTEN VOM LIEBEN GOTT

GEHÖREN ELLEN KEY.

RAINER MARIA RILKE

ROM, IM APRIL 1904.

NNeulich, am Morgen, begegnete mir die Frau Nachbarin. Wir begrüßten uns.

»Was für ein Herbst!« sagte sie nach einer Pause und blickte nach dem Himmel auf. Ich tat desgleichen. Der Morgen war allerdings sehr klar und köstlich für Oktober. Plötzlich fiel mir etwas ein: »Was für ein Herbst!« rief ich und schwenkte ein wenig mit den Händen. Und die Frau Nachbarin nickte beifällig. Ich sah ihr so einen Augenblick zu. Ihr gutes gesundes Gesicht ging so lieb auf und nieder. Es war recht hell, nur um die Lippen und an den Schläfen waren kleine schattige Falten. Woher sie das haben mag? Und da fragte ich ganz unversehens: »Und Ihre kleinen Mädchen?« Die Falten in ihrem Gesicht verschwanden eine Sekunde, zogen sich aber gleich, noch dunkler, zusammen. »Gesund sind sie, Gott sei Dank, aber –«; die Frau Nachbarin setzte sich in Bewegung, und ich schritt jetzt an ihrer Linken, wie es sich gehört. »Wissen Sie, sie sind jetzt beide in dem Alter, die Kinder, wo sie den ganzen Tag fragen. Was, den ganzen Tag, bis in die gerechte Nacht hinein.« »Ja,« murmelte ich, – »es gibt eine Zeit …« Sie aber ließ sich nicht stören: »Und nicht etwa: Wohin geht diese Pferdebahn? Wieviel Sterne gibt es? Und ist zehntausend mehr als viel? Noch ganz andere Sachen! Zum Beispiel: Spricht der liebe Gott auch chinesisch? und: Wie sieht der liebe Gott aus? Immer alles vom lieben Gott! Darüber weiß man doch nicht Bescheid –.« »Nein, allerdings,« stimmte ich bei, »man hat da gewisse Vermutungen …« »Oder von den Händen vom lieben Gott, was soll man da –«

Ich schaute der Nachbarin in die Augen: »Erlauben Sie,« sagte ich recht höflich, »Sie sagten zuletzt die Hände vom lieben Gott – nicht wahr?« Die Nachbarin nickte. Ich glaube, sie war ein wenig erstaunt. »Ja« – beeilte ich mich anzufügen, – »von den Händen ist mir allerdings einiges bekannt. Zufällig« – bemerkte ich rasch, als ich ihre Augen rund werden sah – »ganz zufällig – ich habe – – – nun,« schloß ich mit ziemlicher Entschiedenheit, »ich will Ihnen erzählen, was ich weiß. Wenn Sie einen Augenblick Zeit haben, ich begleite Sie bis zu Ihrem Hause, das wird gerade reichen.«

»Gerne,« sagte sie, als ich sie endlich zu Worte kommen ließ, immer noch erstaunt, »aber wollen Sie nicht vielleicht den Kindern selbst?…« »Ich den Kindern selbst erzählen? Nein, liebe Frau, das geht nicht, das geht auf keinen Fall. Sehen Sie, ich werde gleich verlegen, wenn ich mit den Kindern sprechen muß. Das ist an sich nicht schlimm. Aber die Kinder könnten meine Verwirrung dahin deuten, daß ich mich lügen fühle … Und da mir sehr viel an der Wahrhaftigkeit meiner Geschichte liegt – Sie können es den Kindern ja wiedererzählen; Sie treffen es ja gewiß auch viel besser. Sie werden es verknüpfen und ausschmücken, ich werde nur die einfachen Tatsachen in der kürzesten Form berichten. Ja?« »Gut, gut,« machte die Nachbarin zerstreut.

Ich dachte nach: »Im Anfang …« aber ich unterbrach mich sofort. »Ich kann bei Ihnen, Frau Nachbarin, ja manches als bekannt voraussetzen, was ich den Kindern erst erzählen müßte. Zum Beispiel die Schöpfung …« Es entstand eine ziemliche Pause. Dann: »Ja – – und am siebenten Tage …« die Stimme der guten Frau war hoch und spitzig. »Halt!« machte ich, »wir wollen doch auch der früheren Tage gedenken; denn gerade um diese handelt es sich. Also der liebe Gott begann, wie bekannt, seine Arbeit, indem er die Erde machte, diese vom Wasser unterschied und Licht befahl. Dann formte er in bewundernswerter Geschwindigkeit die Dinge, ich meine die großen wirklichen Dinge, als da sind: Felsen, Gebirge, einen Baum und nach diesem Muster viele Bäume.« Ich hörte hier schon eine Weile lang Schritte hinter uns, die uns nicht überholten und auch nicht zurückblieben. Das störte mich, und ich verwickelte mich in der Schöpfungsgeschichte, als ich folgendermaßen fortfuhr: »Man kann sich diese schnelle und erfolgreiche Tätigkeit nur begreiflich machen, wenn man annimmt, daß eben nach langem, tiefem Nachdenken alles in seinem Kopfe ganz fertig war, ehe er …« Da endlich waren die Schritte neben uns, und eine nicht gerade angenehme Stimme klebte an uns: »O, Sie sprechen wohl von Herrn Schmidt, verzeihen Sie …« Ich sah ärgerlich nach der Hinzugekommenen, die Frau Nachbarin aber geriet in große Verlegenheit: »Hm,« hustete sie, »nein – das heißt – ja, – wir sprachen gerade, gewissermaßen –.« »Was für ein Herbst,« sagte auf einmal die andere Frau, als ob nichts geschehen wäre, und ihr rotes, kleines Gesicht glänzte. »Ja« – hörte ich meine Nachbarin antworten: »Sie haben recht, Frau Hüpfer, ein selten schöner Herbst!« Dann trennten sich die Frauen. Frau Hüpfer kicherte noch: »Und grüßen Sie mir die Kinderchen.« Meine gute Nachbarin achtete nicht mehr darauf; sie war doch neugierig, meine Geschichte zu erfahren. Ich aber behauptete mit unbegreiflicher Härte: »Ja, jetzt weiß ich nicht mehr, wo wir stehengeblieben sind.« »Sie sagten eben etwas von seinem Kopfe, das heißt –« die Frau Nachbarin wurde ganz rot.

Sie tat mir aufrichtig leid, und so erzählte ich schnell: »Ja sehen Sie also, solange nur die Dinge gemacht waren, hatte der liebe Gott nicht notwendig, beständig auf die Erde herunterzuschauen. Es konnte sich ja nichts dort begeben. Der Wind ging allerdings schon über die Berge, welche den Wolken, die er schon seit lange kannte, so ähnlich waren, aber den Wipfeln der Bäume wich er noch mit einem gewissen Mißtrauen aus. Und das war dem lieben Gott sehr recht. Die Dinge hat er sozusagen im Schlafe gemacht; allein schon bei den Tieren fing die Arbeit an, ihm interessant zu werden; er neigte sich darüber und zog nur selten die breiten Brauen hoch, um einen Blick auf die Erde zu werfen. Er vergaß sie vollends, als er den Menschen formte. Ich weiß nicht, bei welchem komplizierten Teil des Körpers er gerade angelangt war, als es um ihn rauschte von Flügeln. Ein Engel eilte vorüber und sang: ›Der du alles siehst …‹

Der liebe Gott erschrak. Er hatte den Engel in Sünde gebracht, denn eben hatte dieser eine Lüge gesungen. Rasch schaute Gottvater hinunter. Und freilich, da hatte sich schon irgend etwas ereignet, was kaum gutzumachen war. Ein kleiner Vogel irrte, als ob er Angst hätte, über die Erde hin und her, und der liebe Gott war nicht imstande, ihm heimzuhelfen, denn er hatte nicht gesehen, aus welchem Walde das arme Tier gekommen war. Er wurde ganz ärgerlich und sagte: ›Die Vögel haben sitzenzubleiben, wo ich sie hingesetzt habe.‹ Aber er erinnerte sich, daß er ihnen auf Fürbitte der Engel Flügel verliehen hatte, damit es auch auf Erden so etwas wie Engel gäbe, und dieser Umstand machte ihn nur noch verdrießlicher. Nun ist gegen solche Zustände des Gemütes nichts so heilsam wie Arbeit. Und mit dem Bau des Menschen beschäftigt, wurde Gott auch rasch wieder froh.

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