Uli Wittstock
Weißes Rauschen
oder Die sieben
Tage von Bardorf
Roman
mitteldeutscher verlag
Cover
Titel Uli Wittstock Weißes Rauschen oder Die sieben Tage von Bardorf Roman mitteldeutscher verlag
Zitat „Weißes Rauschen ist aus sehr vielen, sehr dicht nebeneinander liegenden Sinusschwingungen zusammengesetzt. Diese Teilschwingungen haben gleiche Amplituden; ihre Phasen sind statistisch unabhängig voneinander verteilt. Michael Dickreiter, Handbuch der Studiotechnik, Bd. 1, München 1997, S. 1
Montag
Dienstag
Mittwoch
Donnerstag
Freitag
Sonnabend
Sonntag
Impressum
„Weißes Rauschen ist aus sehr vielen, sehr dicht nebeneinander
liegenden Sinusschwingungen zusammengesetzt.
Diese Teilschwingungen haben gleiche Amplituden;
ihre Phasen sind statistisch unabhängig voneinander verteilt.
Michael Dickreiter, Handbuch der Studiotechnik,
Bd. 1, München 1997, S. 1
Die Stadt hatte in den letzten Jahrhunderten nicht viel Glück gehabt, denn sie war immer wieder heimgesucht worden von Horden aus allen Himmelsrichtungen, nicht wegen ihrer Schätze, denn als besonders reich galt der Landstrich nie, sondern wegen ihrer zentralen Lage an mehreren Handelswegen, über die sich eben auch gut Soldaten und ihre Gerätschaften transportieren ließen. Erschwerend kam hinzu, dass die Stadt sich nicht an das Ufer eines Flusses schmiegte, der einen natürlichen Schutz geboten hätte und nicht einmal ein Flussarm als Lebensader aufzuweisen hatte, sondern allenfalls ein oder zwei Rinnsale, die nur in den seltenen Fällen eines Hochwassers zu einem kräftigeren Bach anschwollen. Dies hatte das Leben der Bewohner über Jahrhunderte beeinflusst und zur Ausprägung eines Menschenschlags geführt, dessen emotionale Kargheit ein Abbild jener Verhältnisse war, in denen nun einmal nichts fließen konnte. Das hatte auch Auswirkungen auf die Kriminalstatistik, in welcher Straftaten mit emotionalem Hintergrund deutlich unter dem landesweiten Durchschnitt registriert wurden. Dieser Wochenauftakt war also für Kommissar Schneider eine besonderer, denn die Installation, anders konnte das unmittelbare Umfeld der Leiche nicht bezeichnet werden, ließ eine gewaltige Portion Arglist und Hass vermuten. Jetzt allerdings blickte Schneider auf ein Blatt mit vier Buchstaben, AYCB, flammend Rot auf Schwarz, das heute Morgen hinter dem Scheibenwischer steckte, ohne Telefonnummer und Web-Adresse. Seine Frau, eine ausgewiesene Kennerin von Sonderangeboten im Netz, würde mit dem Zettel wohl mehr anfangen können. Schneider drehte das Papier zwischen den Fingern seiner rechten Hand, während er den Fleck an der Wand näher betrachtete. Das Zeug war wohl organischen Ursprungs, dem Anschein nach aber keine Körperflüssigkeit. Etwa handtellergroß war die Verfärbung, nach oben ausästelnd und von einer Corona feiner Spritzer umgeben. Die Tapete hatte die Flüssigkeit wohl rasch aufgesaugt, denn nichts war die Wand heruntergelaufen. Frohrieb hatte einen seiner berühmten gelben Klebezettel neben dem Fleck geparkt, mit einem Krakel darauf, der es später den Auswertern erleichtern sollte, die Vorgänge in diesem Raum zu rekonstruieren, vorausgesetzt jemand konnte das Gekritzel dann noch entziffern. Er hätte sich stundenlang dem Fleck und seinen filigranen Strukturen widmen können, um sich nicht mit jenem anderen Arrangement beschäftigen zu müssen, welches den übrigen Raum einnahm. Wie ein Schwarm Fliegen klebten dort Frohriebs Zettel auf einer höchst merkwürdigen und zugleich beunruhigenden Installation.
Eigentlich hätte das Gebäude zu dieser Tageszeit vor Aktivität vibrieren müssen, im Klappern der Tastaturen, dem nervösen Quengeln der Handys, dem Gezwitscher der Sondermeldungen und im Sprechgesang der Korrespondenten. Studiotüren hätten schmatzend zufallen müssen, hinter dem eiligen Schritt der Nachrichtensprecher, und Leitungen hätten geschaltet werden müssen, Regler geöffnet, Fragen gestellt und Antworten aufgezeichnet werden müssen, um sie in Halbsätze zu schneiden und anzurichten für den täglichen Gebrauch, damit sie ihren Schrecken verlören. Das alles passierte vielleicht sogar, doch davon bemerkte Schneider nichts.
Arzt, Fotograf und Techniker waren bereits abgezogen und die Männer mit dem Sarg warteten irgendwo in ihrem Wagen, der sicherlich dezent und unauffällig geparkt war.
„So wenig Aufsehen wie möglich“ – diese Bitte, oder besser gesagt diese Anweisung, war ihm vom Chef auf den Weg gegeben worden. Doch wie sollten die Bestatter unter den gegebenen Umständen ihren Job unauffällig durchführen? Den Sarg von der Tiefgarage per Aufzug zum Tatort zu transportieren, war sicherlich nicht das Problem. Wie allerdings die Leiche in den Sarg passen sollte, das war die wohl spannendere Frage. Der Tod erwischt die Menschen ja in den unmöglichsten Momenten. Schlussendlich, dank Erdanziehung, gelangt aber ziemlich jeder Leichnam in eine Post-mortem-Position, die den Abtransport in den dafür üblichen Behältnissen ermöglicht. Hier freilich stellte sich die Situation deutlich anders dar. Der Körper des Opfers war auf eine Art und Weise modelliert worden, dass der Transport in regulären Särgen wohl unmöglich war, zumal die Leichenstarre bereits eingesetzt hatte.
Seine Frau war nicht nur talentiert auf der Suche nach Sonderangeboten im Netz, sondern war auch eine engagierte Hobbyköchin. Sie behauptete gelegentlich, es am Herd zu einer gewissen Meisterschaft gebracht zu haben. Die Zurichtung des Opfers hätte sie wohl als tournieren bezeichnet. Gelenke brechend, Gurgeln kappend und allerlei Hautlappen miteinander vernähend, pflegte sie aus einem handelsüblichen Geflügel einen irgendwie zusammengepressten Haufen Fleisch herzustellen. Nach welchem Kochbuch der Täter hier vorgegangen war, musste sich allerdings erst noch erweisen. Rein instinktiv bezweifelte Kommissar Schneider jedoch, dass es für dieses Arrangement überhaupt ein kulinarisches Vorbild gab, allenfalls die asiatische Küche schien ihm artverwandt zu sein, aber vielleicht war dies nur ein Vorurteil. Das Opfer lag auf dem Bauch, der sich trotz der Überdehnung noch prall unter dem zu engen Hemd abzeichnete. Der Oberkörper war zurückgebogen und die Arme auf dem Rücken gefesselt, sodass die Hemdknöpfe gefährlich spannten. Die Beine waren ebenfalls angewinkelt. Füße und Hals des Opfers waren umwickelt mit dünnen Plastikbändern, die sich nun wie eine Sehne über den gebogenen Körper spannten. Der Tod war wohl nicht plötzlich und schnell gekommen. Auf dem feinen Hemdstoff unter den Achseln zeichneten sich großflächige Inseln der Angst ab. Der Schweiß war getrocknet und die Umrisse erinnerten Schneider an Irland. Das dünne blonde Haar lag verklebt auf der Stirn, wurde dann rechts ein wenig länger und alle Versuche des Opfers, der Verknotung zu entkommen, hatten einen beginnenden Haarausfall freigelegt. Um die Mundwinkel herum und auf der Hemdbrust waren Tränen, Schweiß, Speichel und was sonst Menschen in so einer Situation von sich zu geben pflegen zu einer Art Borke geronnen, die in einem seltsamen Widerspruch zu der ansonsten sehr gepflegten Erscheinung des Opfers stand. Wahrscheinlich stranguliert, hatte der Arzt mitgeteilt, bevor er gegangen war. Die Tatwaffen, wenn man überhaupt von solchen reden konnte, waren offensichtlich Tonbänder. Seit Jahrzehnten hatte Schneider solches Material nicht mehr gesehen. Er hatte die Existenz solcher Bänder sogar vollständig vergessen, regelrecht verdrängt, wie er sich gerade eingestand, dabei hatten solche Tonbänder in seiner Jugend einen großen Teil seiner Freizeit in Anspruch genommen. Seltene Stücke, denen der Ruf vorauseilte, verboten zu sein, wurden bis zur Unhörbarkeit kopiert. Ein Song namens Moscow fiel Schneider ein, in dem es der Legende nach um Panzer ging. Die Aufnahme klang dumpf, als hätte der Sänger einen Knebel im Mund, und die Gitarre plärrte mulmig, selbst wenn man den Tonkopf nachjustierte. Tonbänder waren der gewickelte Soundtrack seiner Jugend. Hier allerdings waren sie zu einem letzten Blues verknüpft worden – in einem Funkhaus.
Читать дальше