Das war etwas viel auf einmal: Anette wollte ihn loshaben….!
In seinem Inneren fing es an zu brodeln und zu grollen, er war nahe dran, aus der Höhle zu fahren, seine ganze Wut zu ballen und das Dorf samt seinen lästigen Bewohnern dem Erdboden gleich zu machen. Das wäre, wenn er sich anstrengte, eine Sache von knapp fünf Minuten gewesen, dann wäre der Frieden wieder hergestellt und er der Herr der Lage.
Aber so wollte er sich doch nicht hinreißen lassen.
Dann wäre er ja keinen Deut besser gewesen, als sein düsterer Vorgänger, den er wegen seiner Gewalttätigkeit und Brutalität verachtete - und er wäre der Versuchung der dunklen Mächte erlegen.
Er zwang sich zu Ruhe und Besonnenheit. Als er genau nachdachte, bemerkte er Anettes Absicht, auch ihn zu beschützen. Und "mein geliebter Drache" hatte sie gesagt, also kein Grund zur Panik!
In solchen Situationen musste ein kluger Drache die Ruhe bewahren, und so einer wollte er ja schließlich sein.
Jetzt wurde ihm auch endlich die Warnung klar, die ihm Anette gebracht hatte. Offenbar braute sich da etwas zusammen, während er friedlich in seiner Höhle gesessen und an nichts Böses gedacht hatte.
Die Bauern waren tatsächlich so kühn, ihn in seiner Höhle angreifen zu wollen! Das belustigte ihn fast schon wieder. Diese Ahnungslosen hatten wirklich keine Vorstellung, was ein Drache in seiner Höhle vermochte, welche Macht er gerade dort hatte.
Also kein Grund zur Sorge, aber Wachsamkeit konnte nie schaden.
Willi wollte den Angriff der Bauern abwehren, sich dauerhaft Respekt verschaffen, aber es sollte niemand dabei zu Schaden kommen. Das war sein Entschluss, den er nach gründlichem Nachdenken fasste.
Anettes Vorschlag, einfach zu verschwinden, war für ihn natürlich vollkommen unannehmbar. Er fühlte sich sehr wohl, hier in seiner Höhle.
Dort hatte er zu sich selbst gefunden, war mit seinem Berg verwachsen. Und er liebte die Gegend, sie war seine Heimat geworden.
Die Auseinandersetzung mit dem Dorf beruhte ja nur auf einem Missverständnis, das durfte er nicht überbewerten. Wenn er klug vorging, konnte er sich die Bauern mit ein paar eindrucksvollen Beweisen seiner Macht vom Hals halten und erreichen, dass erst einmal wieder Ruhe einkehrte. Dann wollte er versuchen, mit dem Dorf Kontakt aufzunehmen und wieder Frieden zu schließen.
Schließlich hatten die Menschen und er eine lange Zeit keine Probleme miteinander gehabt; seine Anwesenheit gab dem Dorf sogar einen gewissen Schutz vor möglichen anderen Gefahren.
Und er würde anbieten, den angerichteten Schaden mit etwas Gold aus dem Drachenschatz wieder gut zu machen.
Willi blieb stur in seiner naiven Überzeugung, er könne ein Teil, ein Mitglied dieser Welt sein und von ihr als solcher akzeptiert werden.
Aber zunächst musste er auf der Hut sein und einen Plan für sein weiteres Vorgehen machen.
Er beschloss, erst einmal aus der Höhle zu kriechen und sich einen Überblick zu verschaffen. Ein klarer Spätherbstmorgen ermöglichte ihm eine weite Sicht ins Tal.
Von seinem Platz am Höhleneingang aus konnte er jede Bewegung zwischen dem Dorf und dem Berg genau beobachten. Er bemerkte, dass sich eine Gruppe bewaffneter Männer mit Pferden und einem Wagen vor dem Dorf versammelte und für den Abmarsch bereit machte.
Der günstigste Augenblick, sie anzugreifen, wäre zweifellos, wenn sie etwa eine halbe Stunde vom Dorf entfernt, mitten im Tal wären. Er könnte sich hinter einem der seitlichen, kleinen Berge versteckt halten und sie dann vollkommen überraschen. Die Bauern rechneten überhaupt nicht mit einem Angriff und erwarteten, ihn von seiner Verletzung erschöpft und schlafend in der Höhle vorzufinden und am allerwenigsten dachten sie sicher zu dem von ihm gewählten Zeitpunkt an einen Überfall des Drachen.
Er würde sie vollends überrumpeln können.
Sachte ließ er sich in die Luft gleiten, segelte langsam, knapp über den Baumwipfeln in ein Seitental und flog die Stelle, an der er die Möchtegern - Drachentöter erwarten wollte, vorsichtig von hinten an.
Ein hervorstehender Felsen bot sich als Ausguck an, dort ließ er sich nieder und behielt den Weg durchs Murmeltal, auf dem der kriegerische Haufen entlang ziehen musste, genau im Auge.
Er selbst war vom Dorf aus nicht zu sehen.
Ungefähr eine dreiviertel Stunde später sah Willi erst zwei Reiter, eine Art Vorhut, und dann den Rest der Kolonne den Weg zum Berg hinauf ziehen.
Er, holte tief Luft, machte sich noch einmal so richtig seine Wut bewusst und in Sekundenschnelle schwoll er zu einem schrecklichen, riesig großen Drachen an. Dann ließ er sich von einer Windböe emportragen, schwang kräftig seine Flügel und warf sich dem Feind entgegen.
Diesmal achtete er genau darauf, dass er seinen verwundbaren Bauch vom Feind abgewandt hielt.
Im Nu hatte er die völlig überraschte Gruppe erreicht.
In rasendem Sturzflug umrundete er sie und spie Feuer, soviel er nur konnte, zielte aber so, dass die Flammen zwar niemanden verletzten, aber die Männer und Pferde nur knapp verfehlten.
Die Tiere waren sofort in Panik geraten und hatten ihre Reiter abgeworfen. Die Zugpferde des Wagens waren durchgegangen, der Lenker gerade noch abgesprungen und das Gefährt verschwand zusammen mit den übrigen Pferden in einer Staubwolke in Richtung des Dorfes.
Rund um die Männer schlugen hohe Flammen, die Willi durch immer neue Feuerstöße nährte. Er veranstaltete einen ungeheuren Feuerzauber, brüllte, dass den Männern die Ohren dröhnten und tobte sich so richtig aus.
Die armen Bauern lagen zitternd auf dem Bauch flach am Boden und drückten ihre Gesichter ins Gras, die Hände hinter dem Nacken verschränkt.
Sie erwarteten ihr sicheres Ende.
Plötzlich war es ganz still. Nach einiger Zeit wagte es der erste und mutigste der Bauern - es war Georg - leicht den Kopf zu heben und sich umzuschauen. Die Luft schien rein zu sein.
Erleichtert seufzte er auf und sah sich aber nochmals vorsichtig um.
Der Drache war fort.
Erleichtert rief er es den anderen zu. Nach und nach erhoben sie sich und wurden sich klar, dass ihnen außer dem Schrecken nichts zugestoßen war. Erleichtert fielen sie einander in die Arme.
Eilig kehrten sie in das Dorf zurück, um ihre Familien und Freunde zu beruhigen, die voller Verzweiflung den Angriff des Drachen vom Dorf aus mit angesehen hatten und sich nichts anderes hatten vorstellen können, als dass ihre Lieben in dem Feuersturm umgekommen wären.
Das Dorf feierte ein Fest aus Freude über die glückliche Rückkehr der Männer; die Pferde mitsamt dem Wagen waren längst schon wieder im Dorf angekommen.
Die Stelle, an der Willi das Tal versengt hatte, blieb lange ein schwarzes Mahnmal für alle, die den Weg entlang zogen.
Fortan hatte tatsächlich niemand mehr Lust, sich mit dem Drachen anzulegen. Und als sich zeigte, dass keine weiteren Überfälle mehr erfolgten, beruhigte sich allmählich wieder alles. Willi hatte gesiegt, ohne wirklich Schaden und Leid anzurichten.
Den Dorfbewohnern wurde bald klar, dass der Drache sie großzügig geschont hatte.
Trotzdem mochte sich außer einer unglücklichen, jungen Frau niemand vorstellen, mit dem Drachen Freundschaft zu schließen.
All diese Ereignisse hatten Anette in eine arge Krise gestürzt.
Sie wollte nun doch ihr Leben ändern, hatte bemerkt, dass das selbst gewählte Dasein einer Ziegenhirtin, so wie sie es die ganzen Jahre geführt hatte, nicht alles war, was sie sich wünschte und die Leere, die Freudlosigkeit, die in ihre Beziehung zu Robert eingekehrt war, hatte sie gründlich satt.
Mit dem Drachen hatte sie Wunderbares erlebt, hatte das Gefühl gehabt, ihre Seele könne auf einmal wieder atmen und lachen. Sie hatte das Träumen wieder entdeckt.
Aber ein Drache war nun einmal ein Drache.
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