Morgen würde er Anette endlich wieder sehen.
Die Vorfreude ließ ihn ganz aufgeregt werden. Sein sonst so gutes Zeitgefühl versagte völlig, er raste drei oder viermal in der Nacht aus der Höhle, um nachzusehen, ob der Tag endlich anbräche und als er in dieser Hoffnung jedes Mal enttäuscht wurde, musste er einfach seinem Drachentemperament etwas Luft machen, ein wenig herumbrüllen, Feuer spucken und wild grölend durch die Luft jagen.
Das Dorf hatte einmal mehr seine nächtliche Unterhaltung.
Anette verfolgte das Spektakel in der Hütte ihres Schäfers, in halb freudiger, halb banger Erwartung des morgendlichen Treffens ebenfalls schlaflos.
Robert drehte sich im Halbschlaf zur Wand, brummte, dass das mit dem Drachen wirklich lästig sei und schlief wieder fest ein.
Sie wälzte sich unruhig von einer Seite auf die andere, fand, wie schon so oft auch keinen Schlaf.
Nur dachte sie diesmal nicht über ihr freudloses Leben mit ihrem Robert nach und über eine frühere, vergangene Liebe, die ihr immer noch nachhing; nein, diesmal dachte sie an den Drachen, aber ihre Gefühle waren so anders als die, die sie früher erlebt und empfunden hatte.
Sie sah ihn vor sich in seinem schimmernden Schuppenpanzer, stolz und schön, wie er sie freundlich anschaute, seine geheimnisvoll funkelnden Augen ganz auf sie gerichtet. Wie er seine Flügel um sie gebreitet und sie mit seinem Zauber belegt hatte, als er ihr diesen wunderbaren Kuss gab.
Dieser Kuss hatte auch bei Anette bisher nicht gekannte Gefühle erwachen lassen.
Sie sehnte sich danach, wieder so geküsst zu werden. Mit aller Leidenschaft begehrte sie dieses Zauberwesen, diesen geheimnisvollen Drachen. Aber den Gedanken, dass sie für ihn mehr als nur Freundschaft empfand, wollte sie einfach nicht zulassen. Sie drehte sich heftig um und fiel dann endlich doch in den Schlaf, erwachte aber kurz nach Sonnenaufgang wieder.
An diesem Morgen war sie viel früher unterwegs als sonst, liebkoste ihre erstaunten Ziegen um einiges herzlicher als üblich und ihr Herz sprang vor Freude, als sie sich der Alm näherte, wo sie den Drachen wieder sehen wollte.
Aber der war nirgends zu sehen, obwohl es schon Mittagszeit war.
Willi hatte nach der unruhigen Nacht noch lange vor seiner Höhle gesessen, bis die Sonne aufgegangen war und nach einem Frühstück aus Heidel- und Brombeeren, welche er sehr mochte, und die es jetzt hier oben reichlich gab, war er auf einmal einfach eingenickt.
Die Mittagssonne, die ihm ins Gesicht schien, hatte ihn schließlich geweckt.
Er war furchtbar erschrocken und flog eiligst zu der Bergwiese, wo er Anette und ihre Ziegenherde schon lagern sah. Die Tiere flüchteten erst einmal in die Büsche, als er da so unvermittelt über den Wipfeln der Bäume angerauscht kam. Nur die Erinnerung, dass er ihnen ja nichts getan hatte, ließ sie wieder ruhig werden.
Denn Willi bot wirklich einen beängstigenden Anblick, wenn er mit weit entfalteten Flügeln, Hals, Pranken und Schwanz ausgestreckt, durch die Luft schoss, ein sausenden Geräusch und jeder Menge Wind verursachte.
Nur einige Schritte vor Anette landete er elegant und sachte, hopste ihr flügelschlagend, mit halb offenem Maul und der wieder lustig heraushängenden, roten Drachenzunge freudig entgegen.
Anette fiel ihm einfach um den Hals und drückte ihn herzlich.
"Mein lieber Drache, ich habe mich ja so auf Dich gefreut", flüsterte sie in sein rechtes Ohr, das sie dann gleich anfing, ganz liebevoll zu kraulen.
"Was war denn letzte Nacht los?" fragte sie ihn zum Scherz betont vorwurfsvoll. "Das ganze Dorf konnte mal wieder kein Auge zu tun!"
Aber sie lachte gleich wieder.
"Das ganze Theater hat doch hoffentlich nichts mit mir zu tun?“
Willi schaute verlegen zur Seite, räusperte sich einmal, zweimal, hustete, schmatzte, leckte sich über die Lippen und sah Anette völlig verzweifelt an.
"Ach, Anette, dauernd muss ich nur an Dich und Deinen Kuss denken!
Eine junge Frau wie Du und ein alter Drachen wie ich, was soll das nur werden?"
So leichtfertig sie das Erwachen solcher Gefühle bei dem Drachen auch heraufbeschworen hatte, so sehr erschreckte dies jetzt die junge Frau.
Sie erkannte, dass das nun kein Spaß mehr war und vor allem, dass sie sich hüten musste, mit dem Drachen ein Spiel zu spielen.
Aber das beabsichtigte sie auch nicht, sonst wäre sie heute nur hierhergekommen, um ihm zu sagen, dass er ein netter Kerl wäre, aber sie sei eine einfache Hirtin , die mit ihrem Schäfer in Frieden leben wolle.
Genau das wünschte sie ja auch nicht mehr, das war ihr auf einmal klar geworden.
Nicht klar war ihr allerdings, wie das alles weiter gehen sollte. In diesem Punkt waren der Drache und sie sich völlig einig.
Sie verbrachten einen herrlichen, romantischen Tag zusammen, saßen eng nebeneinander und schließlich hockte Anette auf der linken Pranke des Drachen, so wie es in seinem Traum gewesen war. Er legte seinen Flügel sanft um ihre Schultern und sie schauten, Wange an Wange, ins weite Tal hinab und träumten.
Zwischendurch erzählte der Drache lustige Geschichten oder versuchte, Anette mit seinen Erfahrungen oder Überlegungen zu beeindrucken, was ihm aber nur teilweise gelang.
Sie lachte gelegentlich und meinte, er sei ein lieber Schlaumeier.
Und sie küssten sich wieder.
Anette öffnete dieses Mal nicht so schnell die Augen, wie beim ersten Mal!
Als die Sonne sank, wurden sie beide immer stiller und wussten, dass der Abschied nahte.
Anette klammerte sich plötzlich an den Drachen.
Tränen liefen ihr über die Wangen, aber sie wischte sie weg, sprang auf und rannte los.
Ein paar Schritte vom verdutzten Drachen entfernt hielt sie inne, drehte sie sich wieder um rannte zurück, küsste ihn auf seine Nase und flüsterte, dass sie wieder kommen würde, sehr bald. Dann lief sie endgültig davon, gefolgt von ihren verdatterten Ziegen, deren Glöckchen heftig bimmelten.
Willi ließ sich ganz flach auf den Boden gleiten und sah ihnen mit gemischten Gefühlen nach.
Worauf hatte er sich da nur eingelassen?
Die Freude, die er in Anettes Nähe empfand, machte einem hoffnungslosen Gefühl Platz. Sie war eine schöne, junge Frau und würde sich irgendwann einem hübschen Kerl, einem Menschen wie sie selbst zuwenden, ihn vergessen.
Was sollte sie auf die Dauer auch mit so einem alten Monster wie ihm anfangen?
Er hatte in ihren Gedanken gelesen. Sie sehnte sich nach Geborgenheit, Zärtlichkeit - und einer Familie.
So sehr sie jetzt vielleicht die Zeit mit ihm genoss, sie würde sich niemals entschließen können, für immer seine Gefährtin, seine Drachengeliebte zu werden und mit ihm in einer Höhle oder vielleicht in einer Burg zu hausen. Er konnte, wenn er wollte, seine Gestalt wechseln, aber von seinem ganzen Wesen her blieb er immer ein Drachen.
Er könnte ihr seine Liebe und ein schönes Zuhause geben, könnte all seine Drachengeheimnisse mit ihr teilen, aber ihren Wunsch nach Kindern würde er ihr bei all seiner Zaubermacht nicht erfüllen können.
Wieder verfluchte er die Tatsache, dass er ein Zauberwesen war, das eigentlich in einer andern Welt zuhause war.
Traurig, aber zugleich auch wieder glücklich flog er in seine Höhle zurück, wo er sich mit seinem Rauchvergnügen und seinen Büchern ablenkte, bis er spät in der Nacht endlich einschlief.
Auch Anette dachte auf dem langen Heimweg mit einiger Besorgnis über ihre so unerwarteten Gefühle für den Drachen nach, die da in ihr erwacht waren.
Lustlos hatte sie nach ihrer Heimkehr ein einfaches Essen zubereitet, war jedoch später aus einer Art Pflichtgefühl bereitwillig auf Roberts ungeschickte Zärtlichkeiten eingegangen und hatte in dieser Nacht das Bett mit ihm geteilt.
Am nächsten Morgen war sie aber in aller Frühe hinaus zu dem kleinen Wasserfall gegangen, der kurz vor dem Dorf über einen Felsen hinab sprang und einen klaren, kühlen See füllte.
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