Als Björn Anja zu Hause absetzte, nahm sie seine Hand und küsste sie. Ich werde meiner Mama berichten, wie toll Capri war und dass ich den Studenten, mit dem ich dort war, sehr mag!“ Sie stieg aus, und Björn musste sich eingestehen, dass er verliebt war in Anja!
Björn wollte sich die schöne Erinnerung an Italien bewahren und startete in der 12b mit Goethes „Italienischer Reise“. Es gab zwar Gegenwind. „Den alten Sack haben wir doch längst abgehakt“, rief Jonas aus der letzten Reihe. Aber Björn schlug schnell den Bogen zur Gegenwart: „Heute ist man mit dem Flieger in gut zwei Stunden in Italien. Goethe brauchte mit Pferd und Wagen mehrere Wochen. Es gab noch keinen Fotoapparat, Goethe griff zum Zeichenblock. Aber die Faszination, die Italien und das Mediterrane auf uns Deutsche ausüben, ist unverändert groß. Wir könnten versuchen, in Goethes Text dafür einen Schlüssel zu finden. Wer von euch war denn schon mal in Italien?“ Mehr als die Hälfte der Klasse. Nicht alle waren begeistert von Italien. „Ich mag diese Macho-Typen nicht “, erklärte Silvia. Daniel war es in Italien einfach zu dreckig. Und Kurt meinte: „In Italien kann man sich auf nichts und niemand verlassen.“ Es wurden zwei interessante Schulstunden mit reichlich Diskussionsstoff. Anja hielt sich allerdings zurück. Ihr einziger Kommentar: „Amore klingt eben viel viel romantischer als Liebe. Und Espresso schmeckt besser als Kaffee!“
Dagmar traf Björn erst in der Pause – im vollen Lehrerzimmer. „Na, Herr Aumann, ich habe gehört, Sie waren in Italien. Haben Sie sich gut erholt?“ Sie mussten beide grinsen. Björn ließ die Frage unbeantwortet. An Abend saß Björn allein in seiner Single-Bude, trank italienischen Rotwein und ließ die letzte Woche noch einmal Revue passieren. Italien, Capri, Anja und Dagmar... Es war eine schöne Woche gewesen. Aber wie würde es weiter gehen? Ja, er war verliebt in Anja. Aber auch für Dagmar empfand er mehr als nur Sympathie. Das könnte schnell kompliziert werden... Die Flasche war inzwischen leer, Björn legte sich ins Bett. Die nächsten Tage waren wenig ereignisreich. Es begann schon, ihn zu irritieren. Am Donnerstag fing ihn Anja im Schulflur ab: „Ich hab eine Einladung für dich. Mama möchte morgen Abend mit dir essen gehen, um sieben beim Spanier in der Wibbelgasse. Ich hab ihr das mit uns erzählt.“ Björn wurde unsicher. Anja lachte: „Keine Angst, sie will dir nicht ins Gewissen reden. Sie will dich nur einfach kennen lernen. Also um sieben. Ich komm dann um acht dazu.“
Björn fühlte sich nicht wohl in seiner Haut, als er zum Spanier ging. Anjas Mutter würde bestimmt ungehalten sein, ihm Vorwürfe machen. Frau Olsen hatte einen schönen Tisch reservieren lassen und begrüßte Björn mit einem gewinnenden Lächeln. Sie war eine attraktive Frau, Ende 40, kurze blonde Haare, ein schlankes Gesicht mit schmalen Lippen und dunkelbraunen Augen. „Sie sind also der junge Student...Nein, ich weiß natürlich, Sie sind Anjas Lehrer. Ich habe nichts gegen diese Beziehung. Zudem ist Anja volljährig. Und der Altersunterschied.... Ich schätze Sie auf Anfang dreißig. Anja hätte mir auch einen 50-Jährigen präsentieren können. Wäre ich auch nicht überrascht. Aber ich muss Sie warnen: Anja ist sehr sprunghaft. Sie wird irgendwann zu Ihnen kommen und sagen: 'Das wars'. Mach's gut!' Das kann heute sein, morgen, nächste Woche oder in einem Monat. Und dann sollte es nicht tragisch werden. Tragödien sind nicht Anjas Fach. Anja ist Komödiantin, Entertainerin, mag Nonsens und Klamauk. Sie sollten es dann auch nicht tragisch nehmen.“ Sie lachte: „Nicht dass Sie dann zum Frauenmörder werden.“ Björn konnte darüber nicht lachen und versuchte sich auf seine Fischplatte zu konzentrieren. Um acht ließ sich Anja blicken. „Na, hat dir Mama erzählt, dass ich ein kleines egoistisches Luder bin?“ Jetzt konnte auch Björn wieder lachen. Nach dem Date mit Mama wollte Anja unbedingt Björns Wohnung kennenlernen. „Du wohnst doch hier in der Nähe.“ Björn wollte nicht. „Lass uns doch lieber zu dir fahren.“ Anja ließ aber nicht locker: „Was sind das denn für Heimlichkeiten? Liegen bei dir etwa ein paar Frauenleichen herum, oder hast du zu Hause Frau und Kind sitzen?“ Björn gab sich geschlagen, allein schon, um zu zeigen, dass er kein Frauenmörder war.
Anja kam aus dem Staunen nicht heraus. „Du lebst ja in einer Buchhandlung, einer chaotischen Buchhandlung“, stellte sie fest. „Und diese Staubschicht... Ist die gewollt?“ Björn suchte zwei saubere Tassen und warf die Espresso-Maschine an. „Schmeckt zwar nicht wie in Italien, nennt sich aber auch Espresso“, warnte er. Anja sah sich weiter in der Wohnung um, ging ins Schlafzimmer. „Das Bett macht aber keinen stabilen Eindruck“, meinte sie. „Ich glaube, wir fahren nachher lieber zu mir.“ Aber erst mal gab's den Espresso und Björn legte eine Blues-CD auf. Anja griff sich ein Buch, dass neben dem Sessel auf dem Boden lag: „Oh, das ist ja Hitlers 'Mein Kampf'. Bist du ein Fascho?“ Björn winkte ab: „Ich bin Historiker!“ Anja war beeindruckt: „Was man da so alles lesen muss!“ Björn nahm ihr das Buch aus der Hand: „Komm, wir fahren zu dir!“
In der Pause rief Direktorin Seibold Björn in ihr Büro. „Was machen wir am Wochenende?“ Björn hatte noch nicht darüber nachgedacht. Anja hatte von Disco gesprochen, aber es war noch alles offen. „Sag mal: Was glaubst du, wie lange kannst du dein Verhältnis mit Anja Geheim halten? Ich hab gesehen, wie du sie vorhin auf dem Parkplatz abgesetzt hast. Sicher ein Zufall. Aber solche Zufälle gibt es viele. Und dann? Gut, sie ist volljährig, die Eltern können nichts wollen. Aber so eine Affäre ist nicht gut für den Ruf der Schule. Wir sind hier in der Landeshauptstadt eine der ersten Adressen.“ Björn fühlte sich provoziert: „Und ein Verhältnis zwischen Lehrer und Direktorin?“ Dagmar lächelte: „Das muss nicht rufschädigend sein, wenn man sich offen dazu bekennt.“ Björn erinnerte sich an ihre Äußerung auf Capri, zu Hause würden die Karten neu gemischt. Und er entschied spontan, dass er das Wochenende allein, ohne Anja und ohne Dagmar verbringen werde. Er fuhr nicht nach Hause, sondern in seine Buchhandlung, wo man ganz ungestört in den Neuerscheinungen stöbern konnte. Sein Handy hatte er ausgeschaltet. Er war nicht zu erreichen. Danach ging er beim Griechen essen, kam erst um zehn nach Hause. Auf dem Anrufbeantworter hörte er Anja: „Ich kann dich nicht erreichen. Ich geh jetzt allein in die Disco. Irgendjemand wird sich da schon um mich kümmern. Ruf mich morgen bitte nicht an. Entweder bin ich beschäftigt oder müde – oder beides. Ciao!“ Björn machte sich Vorwürfe. Anja würde sich jetzt irgendeinem Typen anlachen für einen One-Night-Stand, und das war seine Schuld. Da half nur Alkohol. Im Kühlschrank lag noch eine Flasche Wodka.
Björn wachte erst um zehn auf, schlief wieder ein... Am Nachmittag um fünf stand er endlich auf – das Telefon klingelte. Anja!. „Was ist los mit dir. Warst du bei Dagmar oder bist du anderswo versackt? Wenn du willst, kannst du ja um sieben mal vorbei kommen.“ Björn freute sich, Anja zu hören. Anja berichtete, dass sie in der Disco ein paar alte Bekannte getroffen habe. „Auch den Axel Weber aus Baumberg. Mit dem war ich zwei Monate zusammen, mit 16. Dann hat er ein 1,0-Abi gemacht. Seitdem ist er nur noch ein arroganter Affe. Heute Morgen um vier bin ich nach Hause gekommen. Und was hast du gemacht?“ Björn erzählte: Buchhandlung, Essen beim Griechen, Wodka, Bett. „Hoffentlich hat es dir Spaß gemacht“, reagierte Anja ironisch.
Am Montagmorgen begann der Unterricht ohne Dagmar Seibold. Sie ließ nichts von sich hören. Am frühen Mittag tauchten aber zwei Kripo-Beamte in der Schule auf: Oberkommissar Müller und sein Kollege Koch. Sie meldeten sich im Sekretariat und machten der Sekretärin die schockierende Mitteilung, Frau Seibold sei an frühen Morgen auf einem Parkplatz im Grafenberger Wald tot aufgefunden worden. Ermordet! Diese Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Frau Seibolds Stellvertreter Gregor Kamann ließ die Schüler nach Hause schicken und bat alle Kollegen ins Lehrerzimmer. Alle wurden von der Kripo verhört. „Wissen Sie etwas über das Privatleben von Frau Seibold?“, wollte der Oberkommissar wissen. Björn blieb ruhig: „Nein!“ Kommissar Koch zog zwei Fotos aus der Tasche: „Schauen Sie mal, Herr Aumann. Das sind Fotos von einer CD, die wir in der Wohnung von Frau Seibold gefunden haben. 'Italien 2009' stand auf der Hülle. Wer ist dieser ältere Herr neben Frau Seibold? Und wer ist der Mann auf dem anderen Foto?“ Daran hatte Björn gar nicht mehr gedacht. Sie hatten ja mit Dagmars Kamera ein paar Fotos geschossen. „Der ältere Herr ist ein Buchhändler aus Stockholm. Und der andere... Das bin wohl ich!“ Der Oberkommissar grinste: „Sie haben eine gute Beobachtungsgabe. Aber jetzt erzählen Sie mal...“ Björn berichtete, er habe mit einer Bekannten in den Herbstferien auf Capri Urlaub gemacht und dort zufällig Frau Seibold getroffen. „Der schwedische Buchhändler war eine Urlaubsbekanntschaft von Frau Seibold.“ Der Kommissar präsentierte noch ein Foto. „Diese junge Frau hier, ist das Ihre Bekannte?“ Björn nickte. Der Oberkommissar schmunzelte: „Ziemlich jung, Ihre Bekannte. Ich hoffe sie ist schon volljährig. Noch eine Frage: Wo haben Sie sich letzte Nacht aufgehalten?“ Björn antwortete ohne zu zögern. „Bis halb zwei war ich bei meiner Bekannten. Dann bin ich nach Hause gefahren und hab mich ins Bett gelegt.“ Die Kommissare ließen sich Anjas Adresse geben und Björn konnte das Direktionsbüro wieder verlassen. Im Lehrerzimmer herrschte Aufregung. Frau Seibold ermordet... Das konnte keiner so recht fassen. „Das war sicher ein Lustmord“, meinte Lateinlehrerin Hansen. Sportlehrer Cramer verstieg sich zu der Annahme, Frau Seibold habe bestimmt einen Geliebten gehabt. „Und was meinst du, Björn?“ wollte er wissen. Björn wurde verlegen: „Weiß nicht. Vielleicht war es ja auch ein Raubmord.“ Die Sekretärin hatte einen anderen Verdacht: „Da ist bestimmt so ein perverser Frauenmörder unterwegs!“ Björn meldete sich sofort bei Anja, die immer noch geschockt war. „Ich komme zu dir. Du wirst aber auch von der Kripo Besuch bekommen. Sie kennen die Capri- Geschichte. Ich musste sie erzählen, weil sie mir die Fotos gezeigt haben. Sie wissen aber nicht, dass ich engeren Kontakt zu Dagmar hatte.“
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