Als Björn am späten Mittag nach Hause kam, fühlte er sich unwohl. Was sollte er mit diesem seltsamen Doppelverhältnis? Er war doch ein Typ, der seine Ruhe haben wollte, auch wenn ihn schon mal die Langeweile plagte. Gegen sechs rief Anja an: „Na, wie ist die alte Seibold im Bett? Ihr müsst es ja heiß getrieben haben, dass ihr beide krank geworden seid.“ Björn war das peinlich. „Wer sagt denn...“ Anja unterbrach ihn: „Jetzt spiel nicht das Unschuldslamm. Wie wär's mit ein bisschen Wedekind-Nachhilfe bei mir, in einer Stunde? Oder kriegst du das körperlich nicht mehr hin?“ Björn versprach, vorbei zu kommen. Obwohl: Lust verspürte er keine. Anja war gut drauf, servierte eisgekühlten Prosecco. „Los, erzähl mal, wie ihr es gemacht habt... vaginal, oral oder von hinten? Zier dich nicht, raus mit der Sprache!“ Björn verschluckte sich: „Nicht... Stell dir mal vor, ich würde ihr alles von uns erzählen.“ Aber damit hatte Anja kein Problem: „Mach doch! Ich bin auf jeden Fall französisch besser als sie, obwohl ich nur eine vier habe und sie Französisch-Lehrerin ist. Das kannst du doch bestätigen. Oder?“ Björn dachte: „Bin ich denn in einem Porno gelandet?“ Er versuchte, das Thema zu wechseln. „Sie steht auf Italien.“ Anja überraschte dieser abrupte Themenwechsel: „Wie kommst du jetzt auf Italien? Macht sie es etwa italienisch? Da weiß ich aber gar nicht, wie das geht.“ Björn war ratlos: „Denkst du eigentlich immer nur an Sex?“ Anja knöpfte sich etwas pickiert die Bluse bis zum Hals zu: „Nein, nicht immer!“ Jetzt musste Björn lachen: „Weiß du, warum ich dich mag? Du bist so unberechenbar, direkt – und ein bisschen verrückt.“ Anja schnitt eine Grimasse: „Nicht, dass der Herr sich noch in mich verliebt!“ Björn schenkte Prosecco nach: „Wer weiß?“ Eine Äußerung, die ihn allerdings erschreckte. Sie sprachen nicht mehr über die Seibold, aber über Italien. Und Anja hatte eine Idee: „Bald sind Herbstferien. Wir könnten eine Woche nach Italien fahren. Finanziell ist das kein Problem. Mama gibt mir gern das Geld, wenn sie weiß, dass sie dann erst mal wieder Ruhe hat vor mir. Wir fahren aber nicht mit deinem mickrigen Punto. Wir fliegen einfach nach Rom und nehmen uns dort einen Leihwagen. Ich ruf gleich morgen Mama an.“ Björn ging das alles zu schnell: „Gut ,Italien, aber...“ Anja war beleidigt: „Ich weiß schon, was du denkst. Ich bin zu jung, oder du bist zu alt... Ich geh aber glatt für 20 durch und kann mich auch entsprechend benehmen – wenn ich will. Ich bin gut erzogen und weiß genau, wie man damenhaft die Suppe löffelt.“ Ja, genau diese Unbekümmertheit und Schlagfertigkeit... Er würde gern mit Anja nach Italien fahren. Anja hatte noch eine Idee: „Ich möchte mal wieder ins Kino. Morgen läuft in der Spätvorstellung ein schon etwas älterer, aber sicher interessanter Film über den Frauenmörder von Paris. 22.45 Uhr im 'Cinema'. Und anschließend gehen wir dann zu dir. Du wohnst doch da in der Gegend.“ Björn fühlte sich plötzlich verunsichert. „Der Frauenmörder von Paris“, es gab doch unzählige spannende Filme. Warum musste es gerade ein Film über den Frauenmörder von Paris sein? „Tut mir leid. Morgen kann ich nicht“, erklärte er. „Hast du Termin bei der Seibold?“ fragte Anja und lachte. Björn schüttelte den Kopf. Björn blieb diesmal nicht allzu lange bei Anja. Um halb eins zog er sich wieder an und machte sich auf den Heimweg. „Der Frauenmörder von Paris“ ging ihm nicht aus dem Kopf. Zu Hause schaltete er den Computer ein und schaute bei Google unter „Frauenmörder“ nach. Und er fand den Spielfilm über den Frauenmörder von Paris, Regie: Claude Chabrol. Es ist die Geschichte des Henri Désiré Landru, der zehn betuchte Frauen umgebracht haben soll, 1922 verhaftet und 1924 hingerichtet wurde. Gestanden hatte er allerdings nicht. „Interessant“, dachte Björn. Vielleicht sollte er sich doch diesen Film ansehen – mit Anja. Aber, dass sie nachher mit zu ihm nach Hause wollte, behagte ihm gar nicht. Das war ihm zu intim! Seine Junggesellen-Bude gehörte ihm ganz allein. Doch der Film... Aber er könnte doch versuchen, sich mit Dagmar Seibold den Film anzusehen. Ein Chabrol-Film wäre doch ein gutes Argument für eine Verabredung. Oder er ginge allein ins Kino. Nein, diesen Frauenmörder-Film musste man sich in weiblicher Gesellschaft ansehen! In der Pause fragte er Dagmar Seibold, lud sie ein. Sie war hocherfreut, mit solch einer Einladung hatte sie nicht gerechnet, dass Björn jetzt so initiativ wurde, machte sie glücklich. Und dann auch noch ein Chabrol-Film...
Und so saßen die beiden in der Spätvorstellung und sahen sich den „Frauenmörder von Paris“ an. Der Film war indes ganz anders, als von Björn erwartet. Es war kein Thriller, sondern ein chabrol-ironisches Werk mit Doko-Szenen aus dem Ersten Weltkrieg. Dennoch faszinierte ihn dieser Mörder. Auch Dagmar war beeindruckt, so sehr, dass sie nach dem Kino meinte: „Der Film hat mich ganz schön aufgeregt. Du wohnst doch hier zwei Straßen weiter und hast bestimmt auch einen guten Rotwein.“ Es stimmte ja, auch das mit dem Rotwein. „Bei mir herrscht aber absolutes Chaos!“ versuchte er sich noch zu retten. Dagmar lachte aber: „Das stört mich nicht. Wir dürfen uns morgen nur nicht wieder verschlafen!“
Am Frühstückstisch hatte dann auch Dagmar eine Idee: „Demnächst sind doch Herbstferien. Wir könnten zusammen nach Italien fahren. Wie wär's?“ Das zweite Reiseangebot! Björn dachte: „Ich könnte ja mit beiden nach Italien fahren – oder ich fahre einfach allein an die Nordsee.“ Dagmar erwartete eine Antwort: „Sag schon...“ Björn stand auf: „Mal sehen. An sich wollte ich meinen Bruder in Saarbrücken besuchen!“ In der Schule blieb Anjas Platz leer. Björn machte sich Sorgen. Und er war ungehalten, weil er sich jetzt schon um Anja sorgte. In der Pause rief er sie an. Sie war noch ganz verschlafen: „Ich hab's heute leider nicht geschafft. Du wolltest ja gestern nicht mit mir in den Frauenmörder-Film. Da musste ich mich anderswo vergnügen. Und das war ganz schön anstrengend. Gleich fahre ich aber zu meiner Mama wegen unserer Reise. Am besten finanziert sie dich gleich mit. Ich sag ihr, du wärst ein armer Student. Das klappt schon!“ Björn hätte jetzt gern dagegen gesprochen. Es fiel ihm aber nichts ein. Nur: „Ich muss Schluss machen. Bis dann!“ Auf dem Nachhauseweg am frühen Nachmittag fühlte sich Björn sehr belastet. Anja ging davon aus, dass er mit ihr verreise – und Dagmar auch. In beiden Fällen hatte er nicht zugesagt, aber auch nicht „nein“ gesagt. Er war ein Feigling. Das stand fest!i An der Ecke spielte ein Straßenmusikant auf dem Akkordeon die „Caprifischer“. Ja, Italien..... Als am Abend das Telefon klingelte, wusste Björn sofort, dass er sich nun entscheiden müsse. War es Anja oder Dagmar? Es war Anja, und es gab an sich gar nichts mehr zu entscheiden: „Wir fliegen am 7. um 10.30 Uhr nach Rom. Einen Leihwagen habe ich auch sofort gebucht!“ Das bedeutete: Er musste Dagmar Seibold einen Korb geben – weil er als „armer Student“ mit Anja nach Italien fuhr. Den Korb gab es am nächsten Morgen im Büro. „Es tut mir leid, aber ich muss mit meinem Bruder in Saarbrücken etwas Familiäres regeln!“ Dagmar war enttäuscht: „Ich soll einfach nicht mehr nach Italien kommen!“
Der 7. war ein Samstag. Freitag letzter Schultag. Am Abend fuhr Bjön mit seiner Reisetasche zu Anja, die sich gut gelaunt zeigte. „Morgen um diese Zeit sitzen wir schon irgendwo am Meer. Mama meinte, wir sollten unbedingt nach Capri fahren.“ Björn wollte sein Flugticket bezahlen. Aber Anja lachte: „Alles erledigt. Du bist ein mittelloser Student. Und ich lade dich ein.“ Er sollte sich von einer 18-jährigen Schülerin aushalten lassen? Das bereitete ihm Bauchschmerzen. Und überhaupt: So richtig freuen konnte er sich nicht auf diese Reise. Aber Anja hatte noch etwas anderes vor: „Wir müssen heute mit dem Frühlingserwachen früher anfangen. Sonst verpennen wir uns morgen.“
Читать дальше