Sie saßen in einem kleinen Restaurant am Hafen und bestellten frittierten Fisch. „Wann fliegt Ihr zurück?“ fragte Dagmar. Samstag um 14.10 Uhr startete der Flieger nach Düsseldorf. Dagmar flog erst Sonntag zurück. Nach dem Essen tranken sie noch Limoncello, den wunderbar-aromatischen Zitronenlikör von der Insel. „Ich habe überhaupt keine Lust, nach Düsseldorf in die Normalität zurückzukehren“, gestand Dagmar. „Jeden Tag diese Schule, dieser pädagogische Anspruch, das Werben ums Interesse bei den Schülern, die gar keinen Bock auf's Lernen haben... Das ist doch Horror! Und wenn ich an den Winter in Düsseldorf denke. Ich werde wohl oft ins Schauspielhaus gehen. Kultur gibt es ja genug in Düsseldorf. Aber so richtig heimisch geworden bin ich dort nicht.“ Diese Einschätzung hätte Björn ihr gar nicht zugetraut. „Ich hätte im Grunde auch lieber einen anderen Job“, erklärte er. „Vielleicht sollte ich Schriftsteller werden. Ich wäre aber auch gern Regisseur oder Dramaturg, zur Not auch am Düsseldorfer Schauspielhaus oder gleich in der Provinz. Aber wahrscheinlich stehen mir noch fast 30 Lehrerjahre bevor.“ Anja fand dieses Gespräch uncool: „Wenn man euch so hört... Das hört sich ja an wie in der Gruft. Wir bestellen jetzt noch eine Flasche Prosecco. Was macht eigentlich dein pädophiler Schwede?“ Dagmar musste lachen: „Das ist doch ein Netter. Ich geh heute Abend mit ihm essen!“ Am nächsten Tag fuhren sie noch einmal nach Neapel und dann mit dem Wagen zur amalfitanischen Küste. Die enge Küstenstraße zählt zu den schönsten Straßen in Europa, den Traumstraßen. Sie fuhren rauf nach Ravello zur Villa Cimbrone, von deren berühmter Parkanlage man einen überwältigenden Blick auf den Golf von Amalfi hat. Björn und Anja setzten sich auf eine Steinbank. „Das mit der Normalität in Düsseldorf, wovon Dagmar gestern sprach, macht mir Angst“, gestand Anja. „Du bist dann wieder ein blöder Pauker, Dagmar die 'alte Seibold' und ich das geile Flittchen aus gutem Hause. Wie soll das weiter gehen?“ Björn stand auf und beugte sich über die Balustrade der Aussichtsplattform. „Wir müssen zurück. Weißt du: Das Leben besteht letztlich nur aus Zufällen, aus positiven und negativen Zufällen. Das kann einen in die Depression treiben, aber auch frei machen von dieser leidigen Sinnfrage. Und das tut gut!“ Anja stand auf, lehnte sich an ihn: “Ich weiß ja nicht, was in Düsseldorf passiert. Ich möchte aber, dass wir immer gute Freunde bleiben.“ Björn lächelte: „Versprochen!“ Die Zeit verging wie im Fluge. Es war schon sieben. „Wir schaffen es heute nicht mehr nach Capri“, stellte Anja fest. Und Björn musste ihr zustimmen. Sie riefen Dagmar an und teilten mit, über Nacht in Positano zu bleiben. Dagmar war nicht traurig: „Ich hab ja meinen Schweden!“
Björn und Anja hatten eine Flasche Rotwein mit aufs Zimmer genommen und genossen den Blick auf den malerischen Ort Positano. „Morgen Abend feiern wir mit Dagmar auf Capri Abschied“, erklärte Anja. „Und dann nehmen wir Samstag das erste Schnellboot nach Neapel. Um halb fünf landen wir in Düsseldorf. Finito! Montag beginnt wieder die Schule. Acht Uhr, Deutsch mit Björn Aumann!“ Björn musste grinsen: „Da freut sich doch schon die ganze 12b drauf!“ Anja hatte eine Idee: „Du kannst ja wie in der achten Klasse einen Aufsatz schreiben lassen, 'Das schönste Ferienerlebnis' oder so. Und ich lese dann meinen Aufsatz vor...Björn, Dagmar, Amore und ein pädophiler Schwede. Was meinst du, wie gut das ankommt? Das wäre der Renner – und wir würden alle von der Schule fliegen. Herrlich!“ Aber Anja wusste, dass das nur Träumereien waren und dass von den miteinander verwobenen Beziehungen der Drei niemand in der Schule etwas wissen durfte. Björn dachte auch mit Grausen an den tristen Schulalltag. Die Schüler hatten den wenigstens nach dem Abi hinter sich. Für ihn als Lehrer ging es immer weiter. Dabei hatte er zurzeit Glück. Unter seinen Schülern waren keine Schläger, Dealer oder Faschos. Das konnte sich aber schnell ändern. Und vielleicht war ja unter den ruhigen Schülern eine tickende Zeitbombe, ein Amokläufer, der plötzlich wild um sich schießen würde. Oder unter den Lehrern ein Frauenmörder! Aber wen sollte er umbringen? Mit Frau Seibold hatte er doch längst Frieden geschlossen und das Bett geteilt. Anja hatte plötzlich Lust, ihren Vater in Kopenhagen anzurufen. Sie erzählte ihm, dass sie mit einem Freund in Italien sei und das Geld langsam knapp werde. Papa versprach eine stattliche Überweisung und machte den Vorschlag, sie solle doch mal mit ihrem Freund für ein Wochenende nach Kopenhagen kommen. „Eine super Idee“, fand Anja.
Am späten Mittag waren sie wieder auf Capri. Sie trafen Dagmar in der Hotelhalle. Sie trank Espresso und blätterte in einer deutschen Zeitung. „Schön, dass Ihr wieder da seid: Heute Abend treffen wir uns in der Bar zum großen Schlussakkord. Olaf kommt auch“, erklärte Dagmar. Es wurde noch einmal feucht-fröhlich. Olaf war spezialisiert auf Brandy, den er wie Wasser schluckte. Anja, Björn und Dagmar hielten sich eher an Prosecco. Das Ergebnis war das gleiche: Um zwei in der Früh waren sie alle knülle. Um acht mussten Anja und Björn schon im Hafen sein, gepackt hatten sie auch noch nicht. Es wurde stressig. Als sie kurz nach sieben in den Frühstücksraum kamen, wurden sie schon von Dagmar empfangen. „Ich habe zwar kaum geschlafen, aber ich habe mir vorgenommen, euch zum Hafen zu bringen.“ Björn dachte: „Sie ist doch eine tolle Frau, die Dagmar Seibold. Hoffentlich gilt das auch für die Direktorin Seibold.“ Das Wetter machte den Abschied von der Insel leicht. Der Himmel zeigte sich wolkenverhangen, es begann zu regnen, es war kalt, nur acht oder neun Grad. „Wir sehen uns ja alle am Montag in der Schule“, verabschiedete sich Dagmar und bekam von Anja und Björn einen Abschiedskuss.
In der Abflughalle herrschte reger Betrieb. An einem Imbiss-Stand kauften sie sich Pizza und tranken italienisches Bier. Björn meinte grinsend: „Die machen uns den Abschied wirklich leicht: Das miese Wetter, die pappige Pizza und diese dürftige Bier-Imitation.“ Der Flieger landete pünktlich um halb fünf in Düsseldorf. Das Wetter war hier nicht besser: Wolken, Regen, Kälte. Sie fuhren mit dem Taxi zu Anjas Wohnung. Anja packte eine Flasche Limoncello aus und legte eine CD mit napoletanischer Musik auf, die sie in Amalfi gekauft hatte. „Für die Disco bin ich heute zu müde. Ich leg mich gleich ins Bett. Aber wir könnten morgen Dagmar vom Flughafen abholen und essen gehen. Sie freut sich bestimmt!“ Björn fand das eine gute Idee. Aber vorher wollte er auch nur eins: schlafen! Er fuhr nach Hause, zog sich gar nicht erst aus, sondern legte sich, wie er war, aufs Bett und schlief sofort ein. Er träumte von Capri und der Blauen Grotte. Aber er war immer allein. Dagmar und Anja gab es nicht in diesem Traum. Damit hatte Dagmar nicht gerechnet, von Anja und Björn abgeholt zu werden. Eine echte Überraschung. Sie brachten Dagmar nach Hause. Anja staunte über die vielen Bücher in Regalen, auf dem Schreibtisch... „Apropos Bücher...“ Dagmar zog ein Buch aus ihrer Reisetasche. „Das hier war meine Reiselektüre: 'Der Frauenmorder' von Hugo Bettauer. Ein spannendes Buch. Ich leih es euch gern.“ Sie gab es Björn, der leicht zusammenzuckte. Das gezeichnete Cover zeigte ein grässliches Monster. Da hatte der Frauenmörder, der ihnen in Gaeta begegnet war, ganz anders ausgesehen. Und er selbst.... Anja erzählte die Geschichte aus Gaeta. „Ich bekomme jetzt noch eine Gänsehaut, wenn ich daran denke.“ Sie gingen ins Restaurant „Vecchia Roma“. Dagmar war gut gelaunt: „Es war eine schöne Reise. Ich habe mich wirklich erholt. Und dann wart Ihr da und nicht zuletzt mein Schwede. Der hat mich übrigens nach Stockholm eingeladen.“ Sie bestellten Pizza. „Jetzt war ich auf Capri und in Neapel und hab nicht einmal Pizza gegessen“, gestand Dagmar und bestellte eine „Napoli“. Beim Espresso wurde Dagmar nachdenklich: „Morgen beginnt wieder der Ernst des Lebens. Dann bin ich wieder die Frau Seibold, die Direktorin, die natürlich nichts von dem Verhältnis des Herrn Aumann mit seiner Schülerin Anja Olsen weiß. Aber ich denke, wir sind Freunde geworden und bewältigen die Probleme.“
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