Jan hatte auf dem Weg ein unbeschreibliches Gefühl der Freiheit verspürt, für ihn war die Fahrt ein Aufbruch in ein Abenteuer und in eine spannende, vielversprechende Zukunft gewesen. Zudem hatte er sein altes Leben, die Enttäuschungen und das daraus resultierende schlechte Gewissen seinen Eltern gegenüber hinter sich lassen können.
Sie waren so stolz auf ihn gewesen, als er nach dem Abitur mit dem Jurastudium in Bonn begonnen hatte. Für sie standen Berufe wie Richter oder Anwalt für Seriosität, Ansehen, Erfolg und finanzielle Sicherheit. Und seine Eltern hatten sich mehr als alles andere gewünscht, dass es ihm und seinen Geschwistern irgendwann mal besser als ihnen gehen würde.
Jan wusste, dass es ihnen finanziell nicht leicht gefallen war, ihm sein Zimmer und die Ausbildung zu finanzieren. Entsprechend hatte er sich schwer damit getan, das Studium abzubrechen, obwohl er schon nach wenigen Semestern gewusst hatte, dass dies nicht seine Berufung war und ihm keinen Spaß machte. Die juristische Wortklauberei war ihm auf die Nerven gegangen und die Arbeit mit Gesetzen und Texten hatte ihn gelangweilt. Um dem zu entkommen, hatte er sehr viel Zeit im Fitnessstudio sowie beim Hochschulsport verbracht und war so seiner eigentlichen Passion nachgegangen. Nachdem er nach dem vierten Semester erst seinen ersten ‚kleinen Schein‘ gehabt hatte, hatte er die Entscheidung gefällt, das Studium zu beenden.
Seine Mutter hatte Tränen in den Augen, als er seinen Eltern den Entschluss mitgeteilt hatte. Und sie hatte verzweifelt versucht, ihn zur Fortsetzung des Studiums zu bewegen. Schlimmer war allerdings, dass sein Vater kein Wort gesagt hatte. Schweigend war dieser aufgestanden, hatte ihm auf die Schulter geklopft und war dann ohne ein weiteres Wort nach draußen in den Garten gegangen. Es hatte Jan fast das Herz gebrochen, zu spüren, wie sehr er seinen Vater enttäuscht hatte. Nie wieder hatten sie danach über seine berufliche Situation gesprochen und er hatte seine Eltern auch nie wieder um finanzielle Unterstützung gebeten.
Nach der Beendigung des Jurastudiums war er zurück nach Köln gezogen und hatte ein Sportstudium begonnen. Um dieses finanzieren zu können, hatte er tagsüber als Fitnesstrainer in einem Studio und an den Wochenenden in einer Kneipe auf der Zülpicher Straße, einer von Kölns Feiermeilen, gearbeitet. Aufgrund dessen hatte er erneut sein Studium vernachlässigt und war, da er die geforderten Leistungen nicht erbracht hatte, nach sechs Semestern zwangsexmatrikuliert worden.
Damals hatte er vor der Entscheidung gestanden, entweder als Fitnesstrainer oder als Kellner weiterzuarbeiten oder etwas ganz anderes zu machen. Jan hatte sich kurzentschlossen für das Abenteuer und einen neuen Weg entschieden: Direkt nach der Exmatrikulation hatte er sich als Animateur beworben und war, nachdem er die Zusage erhalten hatte, mit seinem Fiat in sein neues Leben aufgebrochen.
Mit den Gedanken im Kopf ging Jan zu seinem Wagen, öffnete den Kofferraum und warf seine Tasche hinein. Er ließ die Klappe ins Schloss fallen und machte sich erneut zu Fuß auf den Weg zu Inés.
*
„Da bin ich wieder“, rief Jan, als er erneut das ‚Bon Vivant‘ betrat. Die Bar war immer noch nahezu leer und neben ein paar Gästen auf der Terrasse, saßen nur Inés und ihre vier Jahre jüngere Schwerster Maria an einem der Tische im inneren. Die beiden Frauen schauten ihn an und begrüßten ihn mit einem freundlichen ‚Hola‘.
„Du siehst aber nicht gut aus, geht es dir nicht gut?“, fragte Maria.
„Er hat einfach wieder zu lange gefeiert, das hinterlässt selbst beim schönen Jan irgendwann Spuren“, warf Inés mit einem schelmischen Lächeln ein.
Jan hatte keine Lust auf den Seitenhieb einzugehen, geschweige denn zu berichten, was er in der vergangenen Nacht getrieben hatte. „Kann ich bitte ein Bier haben?“
„Oh, du fängst heute aber früh an. Klar, bediene dich einfach. Du weißt ja, wie es geht“, antwortete Inés und wandte sich dann wieder ihrer Schwester zu. Die beiden Frauen waren schnell wieder in ihrem Gespräch vertieft und sprachen Mallorquin in einer Geschwindigkeit, der Jan kaum folgen konnte. Und da er immer noch nicht richtig fit war, hatte er auch keine Lust sich zu bemühen. Er ging um die Theke herum, griff sich einen Krug und ließ den goldenen Gerstensaft hineinlaufen. Nachdem das Glas bis zum Rand gefüllt war und sich eine schöne Schaumkrone gebildet hatte, hob er es auf Augenhöhe und betrachtete sein Meisterwerk. Jan war zufrieden, er nahm einen tiefen Schluck und betrachtete die beiden Schwestern, die inzwischen noch intensiver in ihr Gespräch vertieft waren.
Maria lachte laut auf und warf ihre Haare in den Nacken. Sie war Mitte zwanzig, hochgewachsen, schlank und hatte lange braune Haare und ein ebenmäßiges Gesicht. Objektiv betrachtet war sie eine absolute Schönheit, aber aus Jans Sicht eben ‚nur‘ schön.
Seine Augen wanderten zu ihrer großen Schwester und sein Blick wurde deutlich weicher. Liebevoll betrachtete er Inés. Sie hatte ihre Beine übereinander geschlagen und er konnte sehen, wie sich ihr freischwebender Fuß auf und ab bewegte. Wenn Inés sprach, dann sprach sie mit jeder Faser ihres Körpers. Mimik, Gestik und Haltung unterstrichen jeden Satz, jedes Wort, jeden Buchstaben. Jan lächelte. Plötzlich bemerkte er, dass sich Inés‘ Fuß nicht mehr bewegte und dass es in der Bar absolut still geworden war.
„Jan, ist da irgendetwas unter dem Tisch?“, fragte Maria mit einem ironischen Unterton.
Kurz hatte er das Gefühl rot anzulaufen, was ihm eigentlich seit der Pubertät nicht mehr vorgekommen war – aber bei Inés war eben alles anders. „Ne, sorry! Ich hab gerade meinen Gedanken nachgehangen.“
„Wirklich?“
„Na ja, … es wird einem ja nicht täglich gekündigt“
„Oh, pardon! Das wusste ich nicht“, antwortete Maria sichtlich betroffen, während Inés aufsprang und zu Jan hinter die Theke ging. „Du bist entlassen worden? Warum das denn?“, fragte sie, während sie seine Hand nahm. „Was hat dein Chef gesagt?“
„Rückgang der Buchungen im gesamten Konzern und die Notwendigkeit Kosten zu sparen. Und da ich der teuerste Animateur bin, muss ich gehen“, sagte Jan bitter.
„Nur du?“
„Ja.“
„Und wer soll jetzt die Gäste unterhalten und das Team führen?“, fragte Inés erstaunt.
„Lukas.“
„Lukas? Der ist doch noch ein Kind.“
„Ja, Lukas ist noch jung, aber auch gut. Und man wächst ja auch mit seinen Aufgaben. Er wird das schon irgendwie hinbekommen. Auch wenn es für mich blöd ist, für Lukas freut es mich.“
„Komm setz dich zu uns. Möchtest du auf den Schreck einen Brandy?“
„Lieber noch ein Bier.“
„Klar, gerne.“ Inés nahm ihn bei der Hand und führte ihn um die Bar herum zu dem Tisch an dem sie mit Maria saß. Nachdem sie sich gesetzt hatten, fragte Inés besorgt: „Und was machst du jetzt?“.
„Weiß ich nicht. … Das ist ja gerade erst ein paar Stunden her.“
„Stimmt. … Dann brauchst du auch eine neue Wohnung, oder? Du musst aus deinem Appartement raus, oder nicht?“
„Ich bin schon ausgezogen.“
„Du bist schon ausgezogen?“
„Ja. Ich hatte keine Lust auch nur eine Sekunde länger da zu bleiben.“
„Und wo übernachtest du jetzt?“
„Weiß ich nicht.“
„Wenn du magst, kannst du bei mir übernachten“, schoss Maria hervor und während sie das sagte, lächelte sie Jan an.
„Nein, das kommt gar nicht in Frage“, brach es aus Inés heraus.
„Aber warum denn nicht?“
„Weil das nicht geht.“
„Und warum? Ich habe genug Platz“, sagte Maria erstaunt.
„Hast du nicht, du hast nur ein kleines Appartement und da kann nicht noch ein fremder Mann einziehen.“
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