Seine Füße trugen ihn auf dem gepflasterten Bürgersteig einfach voran, mechanisch setzte er – einen Fuß vor den anderen. Eine Platte nach der anderen ließen sie hinter sich, aber Lauenburg nahm den Weg nicht wahr. Er nahm nicht wahr, wie sich die Platten änderten. Er nahm den Randstein nicht wahr, der den Bürgersteig von der Straße trennte. Einen Fuß vor den anderen. Er nahm nicht wahr, wie sein rechter Fuß vom Pflaster abhob, über den Randstein hinweg stieg und den Asphalt der Straße betrat. Und Lauenburg nahm auch den großen Schatten nicht wahr, der auf ihn zuraste.
Donnerstag, 15. Mai, 18:00 Uhr
Etwas bewegte sich schnell auf Xavier zu. Im letzten Moment wollte er noch ausweichen und zur Seite springen, aber es war zu spät: Er spürte, wie eine Hand seine Schulter packte. Xavier versuchte sich loszureißen, aber es war ein Griff wie ein Schraubstock, der seine Schulter umklammerte. Mit einer kräftigen, ruckartigen Bewegung wurde er nach hinten gerissen, sodass er herum schleuderte. Der Griff löste sich, als sich seine Beine ineinander verfingen und er stolperte und zu Boden stürzte. Wieder fiel er auf seine bereits verletzten Knie und schlug vornüber mit seinem Oberkörper und seinem Gesicht auf den harten Untergrund auf. Unmittelbar durchzuckte ihn ein stechender Schmerz, der alle anderen Gefühle überlagerte.
Regungslos mit dem Gesicht nach unten blieb Xavier auf dem Boden liegen. Er traute sich nicht, sich zu bewegen oder aufzuschauen. „Was suchst du hier?“, hörte er eine tiefe unfreundliche Stimme fragen. Xavier bewegte sich vor lauter Angst und Schmerz zunächst keinen Zentimeter, drehte sich dann aber langsam ohne aufzuschauen um und setzte sich hin. Mit gesenktem Blick schaute er auf massive braune Lederstiefel, in denen die kräftigsten Beine steckten, die er je gesehen hatte. Langsam wanderten seine Augen nach oben und das, was er sah, erschreckte ihn: Der Mann war ein Hüne – Xavier schätzte ihn auf mindestens zwei Meter, vielleicht auch mehr. Er trug ein blaurot kariertes Hemd, das sich eng an seinen starken Oberkörper schmiegte und große, kräftige Muskeln erkennen ließ. Der Mann wirkt dabei aber nicht wie ein Kraftsportler, sondern mehr wie jemand, der schwere körperliche Arbeit gewohnt war und regelmäßig verrichtete.
Xavier beeindruckten insbesondere die großen Hände, deren Kraft er bereits zu spüren bekommen hatte. Zögerlich, Zentimeter für Zentimeter wanderte sein Blick nach oben, bis er in das Gesicht eines etwa sechzig jährigen Mannes schaute. Dieses war von einem dichten schwarzgrauen Vollbart umschlossen. An den haarlosen Stellen war die Haut tief braun und von Wetter und Sonne ausgetrocknet. In der Mitte des Gesichts stach eine große hakenförmige Nase bedrohlich hervor, die sich zur rechten Seite bog. Offensichtlich war sie in der Vergangenheit mehr als einmal gebrochen gewesen. Aus dem Schatten einer großen Hutkrempe heraus schauten Xavier tiefschwarze kalte Augen an. „Was du hier suchst, habe ich gefragt!“ Während der Mann ihn anherrschte, erwachten die kalten Augen zum Leben und verengten sich zu engen Schlitzen.
Xavier stockte der Atem, seine Stimme versagte ihm. In seinem Leben hatte er noch nie in ein so hartes Gesicht geblickt.
„Bist du stumm, ich will endlich wissen, was du hier machst.“ Der Mann trat einen Schritt auf ihn zu, beugte sich vor und griff den Kragen von Xaviers Hemd. Ohne Mühe zog er den Jungen an diesem hoch und stellte ihn auf die Beine. Es hatte nicht den Anschein, als wenn es den Mann auch nur ein bisschen anstrengen würde. „Das hier ist kein Spielplatz!“ Während der Hüne das hervor bellte, hielt er Xavier weiter fest am Kragen und schaute ihn mit seinen kalten Augen an.
Obwohl es fast dreißig Grad warm war, lief es Xavier kalt den Rücken herunter. Wer war dieser Kraftprotz und was machte er hier, fragte er sich. Und was gedachte dieser jetzt mit ihm zu tun? Mit Entsetzen wurde Xavier bewusst, dass der Mann mit ihm machen konnte, was er wollte. Egal was dieser tun würde, es gab absolut keine Möglichkeit, sich dagegen zu wehren. Schreien wäre auch sinnlos, da ihn hier in der Einöde niemand hören würde. Xavier wurde sich seiner Hilflosigkeit bewusst. Ein Gefühl von Verzweiflung und Angst kroch langsam in ihm hoch.
Wie lange würde der Mann ihn noch am Kragen halten? Würde er ihn in der Finca einschließen und dort festhalten? Würde er ihn schlagen oder vielleicht noch schlimmeres?
„Jetzt platzt mir aber gleich der Kragen, sag endlich, wer du bist“, schrie ihn der Hüne an.
Xavier konnte immer noch nicht antworten, sein Mund war trocken und er hätte vor lauter Angst keinen zusammenhängenden Satz herausgebracht. Der Hüne ließ von ihm ab, drehte sich um und beugte sich vorn über, um einen dicken Ast vom Boden aufzuheben.
Xavier sah seine Chance: „Jetzt oder nie!“ Geistesgegenwärtig drehte er sich um und stolperte los. Seine Füße blieben an den Kalksteinen hängen, die auf dem Feldweg lagen, aber nach und nach nahm er Geschwindigkeit auf. Die Angst ließ ihn den Schmerz an den Knien nicht spüren und ihn immer, immer schneller laufen. Er rannte den Feldweg entlang und es war ihm egal, ob er dabei gesehen wurde. Offensichtlich hatte man ihn ja bereits entdeckt und nun wollte er nur noch ganz weit weg. Weg von dem unheimlichen Haus und weg von dem furchteinflößenden Hünen, der ihn zu Boden geworfen hatte. Xavier lief und lief.
Nach einiger Zeit – es kam ihm wie eine Ewigkeit vor – hörte er die Geräusche von fahrenden Autos. Xavier bekam kaum noch Luft und hoffte, dass er es bald geschafft hatte. Wenn er die Landstraße erreichte, dann wäre er in Sicherheit. Diese wurde stark befahren und er flehte, dass der Verkehr heute besonders dicht war. An einer stark befahrenen Straße würde sich niemand trauen, ihn anzugreifen.
Xaviers Lungen brannten und er rannte mit letzter Kraft weiter. Er konnte den Lärm der Autos bereits hören, aber sie noch nicht sehen. Der Feldweg machte noch eine leichte Biegung und Xavier wünschte sich, nein hoffte, dass hinter dieser nun endlich die Straße lag. Und tatsächlich, über die Böschung hinweg erblickte er die vorbeirauschenden Fahrzeuge. Mehr, immer mehr, konnte er von der Straße sehen. Dann erblickte er in der Einfahrt zum Grundstück ein schmiedeeisernes Tor und seine gemauerten Einfassungen. Dieses war verschlossen und trennte so den Feldweg von der Straße.
Während er lief sah er durch die Metallstangen des Tores hindurch. Was war das? Es sah aus, als wenn in der Auffahrt ein dunkelblauer Wagen stand. Ein VW Golf, ja es war ein blauer Golf 3 der dort parkte. Saß da nicht jemand drin? Nur schwer konnte er durch das spiegelnde Glas der Frontscheibe etwas erkennen. Xavier war es gleich, er schleppte sich weiter in Richtung Straße.
Als er das Tor erreichte, versuchte er es zu öffnen, aber es war verschlossen. Verzweifelt rüttelte er daran, aber nichts bewegte sich. Langsam zog er sich an den Querverstrebungen hoch, schwang erst ein Bein hinüber, dann das andere. Um Zeit zu gewinnen, drehte er sich nicht um, sondern sprang mit dem Körper nach vorne vom Tor herunter. Als er gelandet war, hatte er noch so viel Schwung, dass er einige Schritte nach vorne stolperte. Plötzlich stand er vor dem Wagen und seine Beine wurden abrupt von der Stoßstange des Fahrzeugs gebremst. Der Schwung schob ihn weiter voran, so dass er vornüber fiel. Im letzten Moment riss er seine Hände nach vorne, sodass sie mit einem lauten Knall auf die Motorhaube schlugen und ihn abbremsten.
Xavier stand still. Er fühlte sein Herz rasen, hörte seinen Puls im Ohr rauschen und spürte, wie sich sein Brustkorb atemlos hob und senkte. Er war völlig fertig und der Schweiß lief in Strömen seinen Körper hinab. Xavier blickte in den Wagen. Dieser war leer. Auf dem Fahrersitz lag eine dunkle Jacke. Jemand hatte sie offensichtlich so in den Wagen gelegt, dass ein Großteil sich auf der Rückenlehne des Sitzes befand. Dadurch hatte es so gewirkt, als wenn jemand im Auto sitzen würde.
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