Xavier atmete erleichtert aus. So schnell er konnte, humpelte er am Fahrzeug vorbei zur Straße. Gedanken schossen ihm dabei durch den Kopf: Was war das für ein Zeichen, das er über dem Eingang der Finca gesehen hatte? Warum hatte der Mann ihn so brutal umgerissen? Auf der anderen Seite, was hatte Xavier auch dort verloren. Aber war das nicht der Grund und Boden seines Vaters und hatte er daher nicht auch das Recht dort zu sein? Xavier hatte nun noch mehr Fragen, auf die er noch keine Antwort wusste. Noch, dachte er bei sich. Während er langsam ruhiger wurde und die Straße in Richtung seines Elternhauses entlang humpelte, bemerkte er nicht, dass er aufmerksam beobachtet wurde.
*
Lauenburg sah den Schatten nicht, der auf ihn zuraste. Sein Blick war immer noch starr auf seine Füße gerichtet. Gedankenverloren setzte einen Schritt vor den anderen, als er die Fahrbahn betrat.
Plötzlich wurde er an der Schulter gepackt und nach hinten gerissen. Aufgrund der Drehung, die sein Körper vollführte, flog ein Arm mit solcher Wucht in die Höhe, dass ihm seine Reisetasche aus der Hand gerissen und auf den Bürgersteig geschleudert wurde. Der vierrädrige Trolley, dessen Griff er fest umklammert hielt, schoss neben ihm nach vorne und riss ihn mit sich, sodass Lauenburg zurück über die Bordsteinkante stolperte und hart aufs Pflaster des Trottoirs schlug. Just in dem Moment als er zu Boden ging, hörte er hinter sich das Horn eines LKWs. Der gellende Ton fuhr Lauenburg in die Glieder und als er sich umdrehte, sah er das Fahrzeug an der Stelle, wo er noch vor einer Sekunde gestanden hatte. Dann rauschte der LKW vorbei und verschwand im Verkehr.
Erneut spürte er eine Berührung an der Schulter. Lauenburg schaute auf und blickte in das Gesicht des Polizisten, der ihn zuvor gebeten hatte, von der Treppe vor dem Polizeipräsidium aufzustehen. Offensichtlich hatte dieser ihn nach hinten gerissen.
„Señor, ist alles in Ordnung? Geht es Ihnen gut?“, fragte der Polizist besorgt.
„Ja, ja, haben Sie vielen Dank, mir geht es gut!“ Lauenburg spürte, wie das Adrenalin durch seine Adern schoss. Er war plötzlich hellwach und wurde sich der Situation bewusst: Hätte der Polizist nicht eingegriffen – einen Moment später wäre er von dem LKW erfasst worden. Er hätte tot sein können. „Ich werde besser aufpassen.“ Während er das sagte, schenkte er dem Polizisten ein gequältes Lächeln. Dann stand er vom Boden auf.
Nachdem er sich den Schmutz von der Kleidung geklopft hatte, sammelte er seine Gepäckstücke ein und nahm seinen Weg wieder auf. Er ging über die Ampel und querte anschließend die Brücke über den Torrent de Sa Riera, Palmas vierhundert Jahre alten Kanal. Als er die andere Seite erreicht hatte, blickt er sich noch einmal um und sah, dass der Polizist immer noch an derselben Stelle stand und ihm nachschaute. Lauenburg winkte ihm noch einmal kurz zu, bog rechts ab und ging weiter seines Weges.
Er ging am Kanal entlang und sein Blick fiel hinunter in den Graben. Die grob behauenen Steine, aus denen die Kanalwände bestanden, fielen ihm ins Auge. Ihm wurde die üppige Bepflanzung und das saftige Grün bewusst, das hier und da mit einigen rötlichen Blüten gesprenkelt war. Palmen und hochaufgeschossene Zypressen streckten sich der Sonne entgegen. Sein Blick wanderte den Kanal entlang zur nächsten Brücke, welche die beiden Seiten des Passeig de Mallorca, der Hauptstraße, die den Torrent einfasste, miteinander verband.
Lauenburg hatte das Gefühl, dass er jedes Detail wahrnahm und in sich aufsog. Das muss das Adrenalin sein, dachte er, als er auf einer Parkbank Platz nahm. Eine Weile betrachtete er den Verkehr, der sich auf der anderen Seite des Kanals einen Weg durch die Stadt bahnte. Der durch ihn verursachte Lärm variierte je nachdem, wie viele Autos sich die Straße herunter schlängelten. Die eintönigen Motorengeräusche wurden regelmäßig vom lauten Röhren vorbeirasender Motorräder oder vom Hupen eines Autofahrers überlagert.
In Gedanken ging er noch mal das Geschehene durch. Du hättest tot sein können, sagte er bei sich. In einer normalen Verfassung wäre ihm so etwas niemals geschehen, doch derzeit befand er sich nicht in einer normalen Verfassung: Auch wenn er aufgrund des Adrenalins gerade hellwach war, wusste er, dass er dringend Schlaf benötigte.
Wieder schoss ihm der Satz des Polizisten durch den Kopf: „ … Sie sollten sich keine Gedanken machen …“ Lauenburg verzog das Gesicht. Der Mann hatte nicht die geringste Ahnung, aber ganz offensichtlich wollte dieser ihm nicht weiter helfen. Wenn dem so ist, dann musst du die Sache eben selber in die Hand nehmen, sagte er sich und spürte, wie sein alter Kampfgeist zurückkehrte.
Lauenburg hasste es, wenn er keine Kontrolle hatte oder Dinge nicht so liefen, wie er sie sich wünschte. Und hilflos zu sein und von einer Situation getrieben zu werden, das war ihm nahezu unerträglich. Solange er denken konnte, hatte er sein Leben selber gestaltet. Doch in der letzten Zeit war es ihm aus den Händen geglitten und er war von den Umständen getrieben worden. Er schüttelte den Kopf: Das war nicht der Carl Friedrich von Lauenburg, der er sein wollte. Das entsprach nicht seinem Charakter und nicht seinem Anspruch, in jeder Situation Haltung zu wahren. In seinem Beruf hatte er schon viele schwierige Situationen gemeistert – und immer hatte er die Dinge im Griff gehabt.
Die schwerste Krise hatte sein Bankhaus im Frühjahr 2009 gehabt. Es war wie viele andere aufgrund der Finanzkrise und dem Beben, das auf die Insolvenz der amerikanischen Großbank Lehman Brothers folgte, in Schieflage geraten. Damals hatten Anteilseigner – namentlich der andere Teil seiner Familie – die Bank an einen amerikanischen Investor verkaufen wollen. Lauenburg hatte sich mit aller Macht dagegen gestemmt und seinen Familienzweig sowie den dritten Großinvestor für die weitere Unabhängigkeit des Bankhauses C.P.E Loutre & Cie. AG gewinnen können. Der Bank war es zu diesem Zeitpunkt zwar nicht gut gegangen und der Preis, den der Investor hatte zahlen wollen, war in der damaligen Situation absolut in Ordnung. Aber für Lauenburg war es einfach undenkbar, das Unternehmen, das sich seit mehr als 235 Jahren in Familienbesitz befand, zu veräußern. Daher hatte er mit allen Mitteln verhindern wollen, dass unter seiner Ägide die Geschichte von C.P.E. Loutre & Cie. AG zu Ende ging.
In einer fast sechsmonatigen Abwehrschlacht hatte Lauenburg gegen die Übernahme gekämpft. Am Ende hatten sein Konzept und seine Strategie den dritten Großaktionär, der sich seit der Wirtschaftskrise 1980 bei ihnen engagierte, überzeugt. Dieser war bereit gewesen, seine Aktien zu halten, wodurch eine komplette Übernahme unmöglich und der Erwerb von Anteilen für die Amerikaner uninteressant geworden waren.
Lauenburg war die Auseinandersetzung noch sehr präsent. Zwischenzeitlich war er durchaus der Verzweiflung nahe gewesen, aber er hatte weiter gekämpft. In seinem Job hatte er niemals aufgegeben, auch wenn die Situation aussichtslos schien. Immer hatte er nach vorne geschaut und sich weiter durchgebissen. Er musste lächeln, als ihm bewusst wurde, dass er eigentlich immer am besten war, wenn er mit dem Rücken zur Wand stand.
Sein Lächeln erstarb, als er wieder an seine aktuelle Situation dachte. Seit einigen Tagen, war er wie paralysiert. Seine Sorgen schienen ihn aufzufressen und er war verzweifelt. Er hatte wieder und wieder sein Handeln hinterfragt. Die Folge war: Er hatte sich treiben lassen, statt zu kämpfen.
Lauenburg sah plötzlich klarer und fällte in diesem Moment eine Entscheidung: Er würde sich der Situation stellen und die Fäden – und damit sein Leben – wieder in die Hand nehmen. Zunächst musste er aber schlafen, auch wenn er wegen einer Aufsichtsratssitzung am nächsten Abend schon wieder zurück in Frankfurt sein musste. Er musste zur Ruhe kommen, um wieder klar denken zu können. Und er brauchte Hilfe, hier auf der Insel.
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