1 ...6 7 8 10 11 12 ...19 Solange Leathan sich in der grünen Muschel befand, konnte sie sich sicher fühlen.
Sie glaubte, dass Magalie Leathan nicht dort herausholen würde.
Richard, dachte sie, bevor sie einschlief. Sie musste die Schattenwelt suchen, um den Freund zu finden. Wer würde ihr in der anderen Welt den Weg zu dem Ort zeigen, an den Leathan seinen Sohn verbannt hatte?
Maia?
Faith jagte finstere Flure entlang, die sich mit immer neuen Abzweigungen weiter vor ihr öffneten. Das flackernde Licht der Kerzen tauchte die Wände in ein diffuses gespenstisches Licht. Die Flammen knisterten und entließen kleine Rauchwolken, die an den Mauern entlang krochen, bevor sie sich auflösten.
Weit vor sich glaubte sie Richard zu sehen, er hörte ihr Rufen nicht. Sie schrie, aber kein Ton kam aus ihrer Kehle. Sie kam ihm nicht näher. Sie lief, bis sie das Gefühl hatte, ihre Lungen würden platzen. Faith rannte. Endlich hatte er sie gehört.
Richard drehte sich langsam zu ihr um, aber es war nicht Richards Gesicht, in das sie sah. Leathans Miene verzog sich zu einem arroganten zynischen Lächeln. Violette Augen, verengt zu Schlitzen, ließen sie schaudern.
„Hab ich dich endlich.“ Er hielt Faith fest. „Wenn ich dich habe, wird auch Magalie kommen.“ Sein höhnisches Gelächter wurde vervielfältigt und zurückgeworfen von den steinernen Wänden, brach dann jäh ab.
Lisa stand vor Faith, die Hand noch auf dem Wecker. „Kannst du dir nicht mal eine Uhr mit einem leiseren Weckton anschaffen?“
Faith fuhr sich mit der Hand über die verschwitzte Stirn und befreite sich von dem zerwühlten Laken, das sich um ihre Beine gewickelt hatte.
„Mach ich“, flüsterte sie. Sie hatte nur geträumt. Aber die endlosen Flure, durch die sie gelaufen war, kannte sie.
Sie erinnerte sich an die Dunkelheit in Leathans Burg. Mit Richards Hilfe hatte sie von dort flüchten können. Richard hatte ihr erklärt, dass diese steinerne Festung nur das Portal zur Schattenwelt sei, dem eigentlichen Fürstentum Leathans. Die dunkle Welt hinter dem Portal war um ein Vielfaches größer und düsterer, als die, die sich darüber befand. Die Festung würde sie wiederfinden. Ja, sie wollte Maia bitten, ihr das Tor zur Schattenwelt zu zeigen.
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Schulstunden
Nach ihren Erlebnissen in der Anderswelt konnte Faith sich kaum auf den Unterrichtsstoff konzentrieren.
Die Mathematikstunden waren nicht nur öde, sie waren auch ärgerlich. Herr Wallch, der wie ein aufgeblähter Gockel durch die Klasse stolzierte, war immer auf der Suche nach jemandem, den er mit hämischen Bemerkungen klein machen konnte. Ein eitler Kerl, der es nötig hatte, die schwächeren Schüler vorzuführen. Die begabten Schüler förderte er, die weniger begabten wurden, wenn sie Glück hatten, links liegen gelassen, mit weniger Glück schikaniert.
Patricia gehörte zu den Begabten und blühte in seinem Unterricht auf. Sie kokettierte mit ihrem Wissen und flirtete ganz ungeniert mit dem Lehrer.
Valerie war eine der bedauernswerten Schülerinnen, die Herrn Wallchs sadistische Seite herausforderte. Sie schaffte es nur mit Hilfe ihres Zwillingsbruders Viktor und der Unterstützung Brunos, ihres hochbegabten Freundes, den Stoff einigermaßen zu begreifen. Was weniger an mangelnder Auffassungsgabe, als vielmehr an ihrer Angst vor dem unangenehmen Lehrer lag.
Die Zwillinge hatten eine indische Mutter und sahen mit ihrem dunklen Teint und den großen, fast schwarzen Augen hinreißend exotisch aus.
Faith hegte den Verdacht, dass das einer der Gründe war, der den Lehrer reizte. Auch Viktor und Jamal entgingen den ironischen Angriffen des Lehrers nicht, obwohl beide überdurchschnittlich gute Schüler waren.
Jamal war schwarz wie die Nacht, und Viktor besaß genau wie Valerie die schöne, getönte Haut ihrer Mutter.
Die Zwillinge, dachte Faith, könnten mit ihrem reizvollen Äußeren ganz gut der Anderswelt entstammen. Sie besaßen die gleiche Anmut wie die Feen und Elfen in der Welt Magalies.
Valerie stand inzwischen an der Tafel und starrte die Formel an, die Herr Wallch für sie dort aufgeschrieben hatte.
„Du wirst uns jetzt das Vergnügen machen, diese relativ einfache Kurvendiskussion durchzuführen.“
Rote Flecken breiteten sich auf Valeries Wangen aus. Der Lehrer hatte sich inzwischen im hinteren Bereich des Klassenzimmers niedergelassen, um das Schauspiel zu genießen, das er inszeniert hatte. Auch die Schüler sahen gespannt nach vorn. Faith saß in der ersten Reihe neben Lisa. Jetzt drehte sie sich um.
„Duck dich“, zischte sie Bruno zu, der direkt hinter ihr saß und hilflos mit ansehen musste, wie Valerie litt.
Er reagierte sofort und Faith drehte den Mondstein, während sie ihn direkt auf den Lehrer und die anderen Schüler richtete. Herr Wallch erstarrte und mit ihm die gesamte Klasse.
„Beeil dich“, raunte Faith Bruno zu.
Und Bruno beeilte sich.
In der Sekunde, in der er seinen Platz wieder einnahm, löste sich die Erstarrung der Klasse und des Lehrers.
Faith ließ den Mondstein los und sah scheinbar gelangweilt nach vorn. Lisa, die wie Bruno und Valerie nicht von dem Zauber des Ringes erfasst worden war, schnaubte in ihr Taschentuch und fiel vor Lachen fast vom Stuhl.
Auch der Mathematiklehrer fiel beinahe vom Stuhl. Allerdings aus anderen Gründen als Lisa. Was er erblickte, war eine perfekt gelöste Kurvendiskussion ohne einen einzigen Fehler und eine ebenso gelöste Schülerin, die ihn abwartend ansah.
Er ähnelte einem Karpfen an Land. Sein Mund öffnete und schloss sich mehrmals. Nachdem er wiederholt vergeblich zum Sprechen angesetzt hatte, brachte er endlich einen Satz hervor.
„Du kannst dich setzen.“
Faith hatte ein schlechtes Gewissen. Sie hatte ihre Mitschüler um ein winziges Stück ihrer Erinnerungen gebracht.
„Ich weiß nicht, wie du das geschafft hast. Hätte ich es nicht mit eigenen Augen gesehen, würde ich denken, du hattest Hilfe. Wenn dies ein unerlaubter Trick war, werde ich es herausfinden.“
Mit diesen Worten entließ Herr Wallch Valerie kurz danach in die Pause.
Faith’ schlechtes Gewissen verflog, als sie die giftigen Worte des Lehrers hörte.
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Nacht über dem Tal
Dies war nicht der kalte blaue Ton, den Oskar über Leathans Felsenstadt gesehen hatte. Hier hing eine silberne messerscharfe Sichel vor einem goldenen Hof am blauschwarzen Himmel, die ihren hellen Schein über das Tal ergoss.
Ein strahlender Stern begleitete die Sichel des Mondes.
„Wie wunderschön“, flüsterte der kleine Elf und hob das grüne Gesichtchen. Seine spitzen Ohren bewegten sich begeistert vor und zurück. Oskar und Lilly stolperten mehr, als sie gingen. Tagelang waren sie unterwegs gewesen durch unwegsames Gebirge und versteppte, sandige, kaum bewaldete Gegenden, immer auf der Hut vor Gefahren, die sie nicht kannten, vor denen aber Nathan und Maia wortreich gewarnt hatten. Die blaue Kugel brachte im Wechsel Hitze am Tage und Kälte in der Nacht
Lilly war es nach wie vor untersagt, zu fliegen. Und Maia hatte ihnen beiden eingeschärft, dieses eine Mal zu gehorchen.
„Wenn Elsabe und Magalie ein Einsehen haben sollen“, hatte sie erklärt, “muss ich ihnen sagen können, dass du dich“, sie sah Lilly ernst an, „meinen Anweisungen gefügt hast.“
Die Furcht hatte ihnen in den letzten Stunden die Kehle zugeschnürt, als die Phosphorkugel mit ihrem kalten Licht plötzlich verschwunden war. Das wenige Licht, das sie gespendet hatte, war einer wirklich pechschwarzen undurchdringlichen Finsternis gewichen.
Leises Tapsen und andere Geräusche, die sie nicht einordnen konnten. hatten Oskar und Lilly erschreckt.
Sie glaubten auch hier das Stöhnen und Ächzen der Seelendiebe zu hören.
Wenn Oskar alleine gewesen wäre, hätte er längst fliegend die Flucht ergriffen. Aber er wusste, wenn Lilly noch einmal ungehorsam wäre, würden die Hexen ihr das nicht verzeihen. Also harrte er zitternd und vor Angst schlotternd an ihrer Seite aus. Unsichtbar zu werden gelang ihm vor Aufregung nicht. Lilly hingegen verschwand von Zeit zu Zeit, wie das ihre Art war. Er fühlte sich sehr allein, wenn sie nicht mehr zu sehen war.
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