Sie bestellte und sah sich dann unauffällig um – durchgehend Leute in ungefähr ihrem Alter, die höchstwahrscheinlich in den Firmen der Umgebung arbeiteten.
Detektivische Meisterleistung, Judith! Welches Publikum war hier denn sonst zu erwarten?
Zwei Tische weiter saßen Anna und Simon aus der Entwickleretage, und ihren Gesten nach – und nach der Art, wie sie die Köpfe zusammensteckten – kamen die beiden sich gerade etwas näher… Nett. Wenn man so etwas mochte, hieß das. Die beiden bemerkten sie nicht, vielleicht wollten sie auch nur ungestört sein.
Judith bekam ihr Sandwich und begann langsam und genüsslich zu essen, während sie beobachtete, wie Anna und Simon zahlten und den Laden verließen. Wirklich lecker. Und dieser Senf war höllisch scharf, das musste der Meerrettich sein. Sie fühlte sich regelrecht belebt. Nach der Arbeit sollte sie vielleicht doch mal einkaufen gehen – und dabei auch eine Tube Sahnemeerrettich mitnehmen, beschloss sie und kaute bedächtig. Ja, und eine Tüte Vollkornsemmeln mit Sonnenblumenkernen darauf. Der Gedanke gefiel ihr so gut, dass sie sich tatsächlich eine Einkaufsliste schrieb. Merkwürdig, sonst war ihr nach dem Essen der Gedanke an die nächste Mahlzeit eher unangenehm. Vielleicht lag das am unvertrauten Geschmack des Meerrettichs? Oder hatte sie sich verändert? Aber warum? Weil der widerliche Schmiedl vor der Tür gestanden hatte? Warum sollte ihr das Appetit machen?
Unsinn.
Sie verbannte diese fruchtlosen Gedanken, aß auf, wobei sie sich bemühte, an gar nichts zu denken, sondern nur zu genießen, und winkte der Bedienung.
Ein schöner Spätherbsttag, fand sie unterwegs und sah sich bewundernd um – ein schwächlicher Sonnenschein, fast kahle Bäume, trockene rote und gelbe Blätter auf dem Boden, die bei jedem Windhauch raschelten wie Papier. Und morgen war schon Freitag – schön…
Obwohl, was würde sie am Wochenende schon Großartiges machen? Sie konnte irgendwo hinfahren und dort etwas besichtigen und schön lange spazieren gehen. Vielleicht nach München, bis dahin würde Schmiedl ihr ja wohl nicht folgen… ob jemand, der direkt aus dem Knast kam, eigentlich ein Auto hatte? Ein zwölf Jahre altes, das irgendwo auf ihn wartete?
Die Schottenbach KG kam in Sicht und Judith, die sich von hinten genähert hatte, schlüpfte durch den Hofeingang ins Gebäude und eilte in den Eingangsbereich, wo sie wie erstarrt stehenblieb.
Durch den Haupteingang kam gerade dieser Sonntag, und am Empfang stand ihr Vater und gab der Empfangsdame Anweisungen, aber das war es nicht, was sie so erschreckt hatte: Vor der Glastür stand Schmiedl.
Grauhaarig, schmalköpfig, schwarz gekleidet. Wie damals!
Er starrte ins Innere des Hauses und Judith starrte nach draußen: Wie konnte er es wagen! Er sollte sie verdammt noch mal in Ruhe lassen, dieser verdammte, verfickte Scheißkerl!
Sie schüttelte den Kopf, als wollte sie die Lähmung vertreiben, und stürzte dann nach draußen, auf Schmiedl zu, ihre Handtasche schwingend und wütend kreischend.
„Du blödes Arschloch, wie kannst du es wagen, hier aufzutauchen! Verpiss dich, du dreckiges Schwein, du Abschaum, du -“ Sie hielt inne, teils, weil ihr leider kein neues, noch schlimmeres Schimpfwort einfallen wollte, teils aber auch, weil Schmiedl, der sich das regungslos angehört hatte, sich plötzlich umdrehte und davoneilte.
Sie starrte ihm nach und brach dann in Tränen aus, bis sie eine Berührung an der Schulter spürte und heftig zusammenfuhr.
„Komm rein, mein Mädchen.“
„Ach, du bist es, Papa…“ Zögernd ließ sie sich in den Arm nehmen.
„Das – das war er“, wisperte sie dann an seiner Schulter. „Hast du ihn gesehen? Ich spinne doch nicht, das war er, ganz bestimmt!“
„Natürlich war er das, ich habe ihn doch auch gesehen. Soll ich die Polizei informieren? Allerdings bin ich nicht sicher, ob die etwas unternehmen können. Ganz ehrlich, er hat nichts gemacht, du bist ja auf ihn los!“
„Was hast du erwartet? Wenn er mir nochmal unterkommt, bring ich ihn um.“
„Mein Mädchen, sag sowas nicht. Mach dich nicht unglücklich für so einen.“
„Unglücklich bin ich doch sowieso“, rutschte es ihr heraus. Erschrocken sah sie zu ihm auf. „Nein, das ist Unsinn. Mir geht es gut, wirklich. Nur nicht, wenn mich dieser Kerl verfolgt.“
„Du bist wirklich eine Meisterin im Leugnen des Offensichtlichen! Judith, du brauchst Hilfe, gib´s doch endlich zu!“
„Quatsch.“ Sie hob den Kopf und sah Sonntag, der sie betrachtete, eine steile Falte zwischen den Augenbrauen.
„Was ist?“
„Ihr Vater hat Recht.“
„Was wissen Sie denn schon!“ Sie machte sich von ihrem Vater los und rannte die Treppe hinauf. Im oberen Stock verlangsamte sie ihr Tempo, bevor noch jemand von den Entwicklern fragte, ob ihr etwas fehle. Sie atmete tief durch, um ruhiger zu werden, und kehrte in ihr Büro zurück.
Weiterarbeiten!
Arbeit war das einzige, was Sicherheit gab – aber sie konnte sich absolut nicht konzentrieren: Warum stand Schmiedl so dämlich vor der Firma herum? Er hatte nicht versucht, sie anzugreifen, im Gegenteil, er war nur davongelaufen, als sie ihn attackiert hatte. Was hatte er bloß gewollt?
Sie nahm sich einen Zettel.
Er will mich verrückt machen.
Er will schauen, was ich heute so mache.
Er will sich entschuldigen.
Er will mich nochmal entführen, weil er kein Geld mehr hat.
Ziemlicher Blödsinn, überlegte sie dann und warf den Zettel zerknüllt in den Papierkorb.
Es klopfte an der Tür und sie brummte etwas wenig Einladendes. Die Tür öffnete sich trotzdem und ihr Vater schaute herein. „Ich habe die Polizei informiert.“
„Meinst du, das nützt etwas? Dumm rumstehen ist eben nicht strafbar.“
„Mag ja sein, aber immerhin hat er dich einst entführt. Dann sollte er sich jetzt verdammt noch mal von dir fernhalten.“
Judith zog die Augenbrauen hoch. Ihr feiner, gelassener Vater – der sogar Jessica Rothers Umtriebe ertragen hatte – fluchte? Die Sache schien ihm doch wirklich nahezugehen…
Sie lachte kläglich auf. „Ich habe schon überlegt, ob er sich vielleicht bei mir entschuldigen will. Idiotisch, was?“
Ihr Vater zuckte, im Türrahmen lehnend, die Achseln. „Wer weiß das schon… würdest du ihm denn verzeihen?“
„Nein. Tut mir leid, ich hab´s nicht mit christlicher Milde. Eher spüre ich eine sehr unchristliche Mordlust.“
„Verständlich. Aber bitte, gib ihr nicht nach!“ Er lächelte schief und verschwand wieder, ohne die Türe zu schließen.
Zwei Türen weiter versuchte Vincent, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren; neben seinem Hauptprojekt hatte er gerade eine niedliche kleine App konzipiert, mit der man einfach, aber effizient auf dem Handy ein Ausgabenbuch und eine Übersicht über die Geldanlagen führen konnte, und wollte über die Details nachdenken und überlegen, wie er bei der Programmierung vorgehen wollte. Aber die Szene in der Eingangshalle ließ ihn nicht los. Diese Judith hatte sich wie eine Verrückte aufgeführt!
Wusste seine Mutter eigentlich, dass die Frau einen an der Waffel hatte? Oder störte das ihren Traum von der Vereinigung der Sandkastenfreunde nicht? Nahm seine Mutter die Realität überhaupt noch korrekt wahr?
Was hatte Judith Schottenbach gegen diesen Typen vor der Tür? Gut, er hatte ein wenig wie ein Penner ausgesehen, und anscheinend hatte er an seinem ersten Tag auch schon einmal draußen herumgestanden, aber warum dieser Ausbruch? Dieses Gekreische? Farbige Schimpfwörter hatte die Gute drauf, das musste man ihr lassen…
Ob sie irgendeine psychische Störung hatte? Aber sonst hatte sie doch immer ganz normal gewirkt? Obwohl, was hieß schon normal…
Und vielleicht traten diese Wutanfälle auch nur gelegentlich auf.
Читать дальше