„Aber ja. Nur eins – wo isst man hier zu Mittag?“
„Wir sind hier in der MiniCity. An jeder Ecke gibt es Bistros, Salat- oder Sandwichbars. Lassen Sie nur die Finger von HappaHappa, das ist anerkannt mies und keiner versteht, warum der Laden immer noch nicht eingegangen ist.“ Jetzt grinste sie richtig. „Dann wünsche ich Ihnen frohes Schaffen. Und bringen Sie heute noch Ihre Unterlagen zur Personalabteilung – das ist der Herr Kretz.“
Damit war er alleine und konnte sich richtig in seinem Büro umsehen.
Als erstes fuhr er natürlich die Rechner hoch, die wirklich keine Wünsche offen ließen, was die vorhandenen Programme betraf.
In der obersten Schublade fand er einen eingeschweißten Dreierpack USB-Sticks, einige Firmenkulis, karierte Notizblöcke mit dem Logo der Schottenbach KG und eine Infobroschüre mit Organigramm. Offenbar die Standardausrüstung für neue Mitarbeiter.
Er las sich die Infobroschüre durch und erfuhr dabei, welche Software Schottenbach unter den Namen SchoDat und SchoSoft produziert hatte – der Schwerpunkt schien auf Buchhaltung, Finanzverwaltung und Bürotools zu liegen. Dabei stellte er fest, dass auch jeweils der Entwickler angegeben war und der Name Judith Schottenbach mehr als einmal auftauchte, und versank in Gedanken: Eine interessante, aber auch merkwürdige Frau, auf eine achtlose Art gutaussehend, die schicke Hosenanzüge trug, weil es eben üblich war, nicht, weil sie attraktiv wirken wollte. Das entsprach nicht dem, was er von anderen Frauen und auch seinen Verflossenen kannte.
Das Telefon klingelte. „Herr Sonntag? Ich hätte hier ihre Zugangsdaten für das Intranet…“
Vincent notierte sich das Naheliegende – sein Kürzel war sov, sein Kennwort 123456. „Bitte sofort ändern! Sie wissen ja, mindestens acht Zeichen, Zahl, Sonderzeichen, Groß- und Kleinschreibung.“
Vincent lachte ins Telefon. „Geschenkt. Und wenn Sie von mir das Kennwort verlangen, sag ich Ihnen ein falsches.“
„So ist es brav. Dann mal willkommen an Bord…“
Vincent loggte sich ein und durchstöberte in aller Ruhe das Intranet nach interessanten Informationen, studierte die Speisekarte der nächstgelegenen Sandwichbar und wandte sich dann seinem halbentwickelten Programm zu, um daran weiter zu arbeiten.
Im Lauf des Nachmittags kamen einige Kollegen und Kolleginnen vorbei, stellten sich vor und hofften auf gute Zusammenarbeit. Erst die vorletzte, Sonja Gerber, verriet sich: „Frau Schottenbach hat uns gebeten, mal reinzuschauen, damit Sie sich nicht so einsam fühlen. Woran arbeiten Sie – ach, Schmarrn! – woran arbeitest du gerade?“
Vincent erklärte es ihr und fragte dann: „Macht Frau Schottenbach das immer? Alle zu einem neuen Kollegen schicken, meine ich?“
„Ja, klar. Sie ist total nett und fürsorglich, das merkst du schon auch noch.“
„Aha…“ Er wirkte wohl etwas unüberzeugt, denn Sonja fuhr fort: „Doch, echt. Eine bessere Chefin findest du so schnell nicht.“
„Ich dachte, Herrn Schottenbach gehört der Laden?“
„Dem Senior? Ja, schon, aber sie macht doch praktisch alles. Sie ist die Juniorchefin. Und sie ist ja auch Informatikerin – er nicht. Als der jung war, gab´s das wahrscheinlich noch gar nicht.“
Vincent nickte, immer noch nicht ganz überzeugt. „Also, ich habe sie ja vorhin das erste Mal gesehen, aber mir kam sie eher – naja – eher kühl vor.“
„Echt? Komisch. Ich finde sie eigentlich sehr freundlich. Vielleicht erinnerst du sie ja an jemanden, den sie nicht mag. Das gibt sich dann bestimmt bald, wart´s nur ab!“
Das konnte stimmen, überlegte er. Nun, dann musste er sich einfach als nett und nützlich erweisen, und wenn sie dann weiterhin kühl blieb, konnte man es eben nicht ändern.
* * *
Judith arbeitete in ihrem Büro vor sich hin und überlegte dazwischen, ob es wirklich eine gute Idee war, diesen Sonntag einzustellen, nur weil seine Mutter mit Papa zusammen in die Grundschule gegangen war. Oder in den Kindergarten? Andererseits hatte der Kerl Talent, das hatten seine Arbeitsproben gezeigt, und wenn jemand schon so einige Programme und Apps gebastelt und sich die Rechte gesichert hatte, konnte er auch für Schottenbach nützlich sein. Wenn er noch ein paar Apps auf eigene Rechnung bastelte – dazu ließ ihm der Vertrag ja auch zum Teil die Freiheit – konnte er andererseits genug Geld verdienen, dass er auf eine feste Stelle gar nicht mehr angewiesen war…
Sie hatte sein Arbeitsverzeichnis noch vor sich liegen und wählte die Apps nun der Reihe nach an – gute Beurteilungen, leider konnte sie sie bis auf eine absolut nicht auf ihrem Smartphone gebrauchen. Diese eine lud sie sich herunter, denn 3,99 waren nicht die Welt und sie wollte doch wissen, wie gut seine Fähigkeiten wirklich waren.
Ja, brauchbar. Viele interessante Features und zumindest im Moment schien diese App auch nicht dazu zu neigen, sich unvermittelt aufzuhängen. Sie würde sie weiter testen.
Kurz vor fünf packte sie zusammen, denn heute lag wirklich nichts mehr an, wünschte ihrem Vater einen schönen Abend und traf im Foyer mit Sonntag zusammen, der recht vergnügt wirkte.
„Und, hat Ihnen Ihr erster Arbeitstag bei uns gefallen?“
Sonntag grinste. „Sehr. Ich habe mich so richtig gut aufgehoben gefühlt und bin mit meinem Programm recht zügig vorangekommen. Haben Sie tatsächlich alle Mitarbeiter zur Begrüßung vorbeigeschickt?“
Judith lächelte. „Nicht alle, nur die Leute auf dem gleichen Gang. Mit denen haben sie vielleicht öfter zu tun, und – ganz wichtig – mit ihnen teilen Sie sich eine Kaffeemaschine. In der Teeküche gegenüber von Frau Michaelis.“
Er lächelte zurück. „Gut zu wissen. Ich werde in den nä-“ Verblüfft blickte er auf seine Chefin, die plötzlich totenbleich geworden war und von der gläsernen Eingangsfront zurückwich, als habe sie einen Geist gesehen. Da sie dabei leicht schwankte, packte er sie am Ellbogen, um ihr Halt zu geben. Sie fuhr zu ihm herum, die Augen dunkel, fast nur noch aus Pupillen bestehend, und riss sich abrupt los. „Fassen Sie mich nicht an!“
„Entschuldigung“, gab Vincent beleidigt zurück, „ich wollte nur verhindern, dass Sie womöglich stürzen. Sie haben nämlich recht unsicher auf den Beinen gewirkt. Haben Sie sich erschreckt?“
„Erschreckt… nein, wovor denn?“
„Vielleicht vor jemandem, der draußen auf der Straße stand?“
„D-draußen? Nein. Entschuldigung, ich wollte Sie nicht kränken. Ich weiß auch nicht, was plötzlich mit mir los war.“
Vincent musterte sie forschend. Sehr überzeugend erschien ihm ihr Gestammel nicht – und er versuchte, unauffällig zu schnuppern, ob er vielleicht Alkohol riechen konnte.
Nein, nichts. Was hatte die Frau bloß? Hysterisch?
Naja, das sagte man ja schnell mal… aber auf jeden Fall stimmte mit Judith Schottenbach etwas nicht, das war mal klar. Jetzt straffte sie sich, schwang sich ihre Tasche über die Schulter und stieß energisch die Glastür nach draußen auf. Ihm entging aber nicht, dass sie dabei ihren Blick hektisch von links nach rechts wandern ließ und sehr eilig auf einen dunkelgrauen Audi zusteuerte. Er selbst blieb stehen und verfolgte, ob sie ihren Wagen sicher erreichte. Erst als sie eingestiegen war (nicht ohne sich noch einmal misstrauisch umzusehen) und den Motor anließ, setzte auch er sich wieder in Bewegung und eilte zu seinem eigenen Wagen.
Eine merkwürdige Frau…
Er beschloss, erst zu Hause darüber nachzudenken, warum sie wohl so seltsam war, sonst verfuhr er sich noch auf dem Weg von der neuen Arbeit zum neuen Zuhause.
Unterwegs nahm er sich eine Pizza aus dem Straßenverkauf mit und ärgerte sich prompt, dass sie ihm noch auf den letzten Metern das Auto mit ihrem Geruch füllte. Jetzt musste er wieder wochenlang in einer Pizzeria herumfahren – offenbar hatte er aus der Sache mit dem Döner auf dem Beifahrersitz überhaupt nichts gelernt – aber wenigstens musste er dieses Mal keinen Krautsalat aus den Polstern klauben…
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