es ist so schön, mit dir unter einem Dach zu wohnen, nicht alleine zu sein und zu wissen, dass du immer für mich da bist und du mir mal wieder aus der Patsche geholfen hast. Für immer - deine Freundin Alina.
Die Ungewissheit über den Ausgang der bevorstehenden Gerichtsverhandlung plagte mich nicht nur tagsüber. In den schlaflosen Nächten beobachtete ich die Zeiger der Uhr, die sich einfach nicht fortbewegen wollten, obwohl ich ein leises Ticken wahrnehmen konnte. Ich hätte nie gedacht, dass der menschliche Körper so lange mit weniger als drei Stunden Schlaf pro Nacht auskommen könnte. Völlig fertig und angeschlagen flüchtete ich oftmals zu nachtschlafender Zeit aus dem Bett. Die zunehmenden Existenzängste drangen aus meinem Unterbewusstsein an die Oberfläche. Sie ließen mich einfach nicht los.
„Na, Emma, lässt dein Arbeitgeber dich mal wieder nicht zur Ruhe kommen? Zumindest siehst du so aus, als hättest du gar nicht geschlafen“, stellte Alina fest, als wir uns in der Küche begegneten. Überrascht über ihre Einschätzung war ich nicht, denn sie selbst in der Vergangenheit von Existenzängsten geprägt, konnte nachempfinden, wie es war, wenn das Leben nicht wie geplant verlief.
Ganz ehrlich! Es gab in der Tat nichts Besseres, als mit der besten Freundin unter einem Dach zu leben und sich gegenseitig zu stützen. Ich hatte Alina geholfen, als sie in finanziellen Nöten war, und im Gegenzug war sie für mich einfach da, wenn ich seelische Unterstützung brauchte und sie mich oft aus dem dunklen Loch holte, in das ich zwischendurch zu fallen drohte.
Sie war es, die mir in dieser schweren Zeit den nötigen Halt gab und meinen Kampfgeist weckte, mich nicht mit meiner Situation abzufinden und im Selbstmitleid zu zerfließen. Alina war es, die mir in dieser turbulenten Zeit eine große Stütze war, als ich mich gegen die Machtspiele einer Kollegin wehren musste und mit einer Kündigungsschutzklage auf die krankheitsbedingte Kündigung meines Arbeitgebers reagieren musste.
Seit Jahren war ich einem sehr schlechten Arbeitsklima ausgesetzt. Eine Kollegin versuchte, mich systematisch fertig zu machen und schikanierte mich, wo sie nur konnte. Ich hielt ihrer ständigen Bosheit so lange stand, bis sich erste Symptome wie Appetit- und Schlaflosigkeit einstellten.
Um weiteren seelischen Gefährdungen vorzubeugen, bat ich meinen Vorgesetzten um eine Versetzung. Leider wurden meine unzähligen Bitten, auch unter Einschaltung höherer Instanzen, einfach ignoriert. Ich war eine gemobbte Angestellte im öffentlichen Dienst. Viel Hoffnung auf eine Versetzung ohne juristischen Beistand hatte ich nicht und konnte mich deshalb nur noch mit einer Beschwerde vor Gericht zur Wehr setzen. Als wäre das nicht belastend genug gewesen, erkrankte ich zeitgleich über einen längeren Zeitraum, denn das feindselige Arbeitsklima sorgte für Konzentrationsprobleme, Herzrhythmus- und Schlafstörungen. Ich war oftmals niedergeschlagen und gereizt. Die damit verbundene reduzierte Motivation führte dazu, dass mir Fehler unterliefen.
Die Folgen der seelischen Belastung gewannen nun auch die Oberhand über meinen Körper. Ich war am Ende, physisch wie psychisch, und dass über viele Monate.
Später fand ich zufällig für meine Freundin eine originelle Dankeskarte im Schreibwarenladen um die Ecke, als ich das Lieblingsobst für sie besorgen wollte. Zu Hause angekommen, setzte ich mich direkt an den Tisch, beschrieb rasch die Karte und stellte als Dankeschön, für ihr Verständnis und ihr offenes Ohr, eine Schüssel mit ihren exotischen Lieblingsfrüchten, wie Kaki, Litschi, Maracuja und Drachenfrucht auf den Tisch. Angelehnt daran einen weißen Briefumschlag, auf dem die Buchstaben „D-A-N-K-E“ zu lesen waren. Auf die Karte hatte ich ihr folgende Zeilen geschrieben:
Hallo, meine Freundin Alina,
es ist so schön, mit dir unter einem Dach zu wohnen, nicht alleine zu sein und zu wissen, dass du immer für mich da bist und mir den nötigen Halt gibst.
Für immer - deine Freundin Emma.
Ich war aufgewühlt. Die ganze Nacht hatte ich mir vor Aufregung um die Ohren geschlagen und war schließlich um fünf Uhr aufgestanden, weil ich es im Bett einfach nicht mehr ausgehalten hatte. Draußen war es noch düster, und mir blieben mehr als sechs Stunden Zeit bis zum Arbeitsgerichtstermin. Ich hatte mir einen großen Pott Kaffee gekocht und ein Brötchen aufgebacken, aber ich hatte kaum einen Bissen heruntergebracht. Zu Vieles war mir im Kopf herumgegangen. Irgendwann dämmerte draußen der Tag.
Den Prozess vor dem Arbeitsgericht hatte ich gewonnen.
Nachdem das Gericht auf Unwirksamkeit der Kündigung entschieden hatte, ging mein Arbeitgeber in Berufung und kündigte mir parallel dazu noch einmal. Nachdem er aber auch diese Verfahren verloren hatte, schaffte ich es, endlich meine Versetzung zu erwirken.
Bei Arbeitsantritt hatte ich zunächst ein bedrückendes Gefühl, denn es war auf jeder Linie ein Neuanfang, und ich wusste nicht, wer oder was mich in dem neuen Bereich erwartete.
War ich der zukünftigen Aufgabe überhaupt gewachsen? Wer und wie war mein neuer Vorgesetzter? Wie verhielten sich die neuen Kollegen? Musste ich auch hier mit emotionalen Angriffen rechnen und mich erneut beschimpfen oder beleidigen lassen?
Ich kannte niemanden in der neuen Abteilung, aber alle kannten mich, sogar mit Namen, denn nach über 35 Jahren Betriebszugehörigkeit stand ich zum ersten Mal im Mittelpunkt und war in aller Munde, weil ich meinem Arbeitgeber die Stirn geboten hatte.
Lasse ich die Zeit Revue passieren, kann ich sehr stolz auf mich sein, dass ich trotz der vielen Anfeindungen in der Vergangenheit nicht aufgegeben hatte, denn im Grunde hätte ich kein besseres Betriebsklima, als das was in meiner jetzigen Abteilung herrscht, antreffen können. Mein Chef hat Verständnis für die Probleme seiner Mitarbeiter und motiviert sie durch Lob und Anerkennung, nicht durch Druck, wie ich es zuvor erfahren musste. Untereinander herrscht Offenheit, und ich habe bis heute nicht das Gefühl, dass hinter vorgehaltener Hand gesprochen wird.
„Mach dich nett zurecht“, hörte ich meine Freundin von unten rufen. „Wir gehen aus!“ Mir war nicht wohl dabei, dass vielleicht mit mir in das Nachtpalais wollte, denn es war nach langjähriger Freundschaft kein Geheimnis, dass Alina in puncto Männer nicht besonders wählerisch war, und genau dort war nicht gerade die Crème de la Crème anzutreffen.
„Wo willst du denn hin?“ fragte ich unsicher.
„Nicht in das Nachtpalais!“ verblüffte sie mich. „Eigentlich möchte ich viel lieber zu Hause bleiben.“
„Keine Chance! Und schon gar nicht heute“, erwiderte sie.
Geplant war ein Besuch in der Düsseldorfer Altstadt, der längsten Theke der Welt.
Für gewöhnlich wäre ich nach den stressigen Wochen nirgendwo hingegangen, doch Alina hatte unbedingt mit mir den gewonnenen Arbeitsgerichtsprozess feiern wollen, und am Ende hatte ich mich dann doch breitschlagen lassen.
Bereits eine gute Stunde später betrachtete ich mich zufrieden im Spiegel, fand das Ergebnis meiner Bemühungen passabel und war abmarschbereit.
In diesem Moment ahnte ich allerdings nicht, dass dieser Abend mein zukünftiges Leben schlagartig verändern würde.
Es war ein trüber Novemberabend, wie ich ihn überhaupt nicht mochte. Der Himmel war grau, der Schnee bedeckte die Straßen und knirschte unter den Sohlen unserer Stiefel. Die dünnen Absätze von Alinas Schuhen waren mörderisch hoch. Keineswegs war sie mit ihren Bleistiftabsätzen passend gekleidet, um damit durch den Schnee zu tapsen, und sie stieß mehr als einen Fluch unterwegs aus. Die Luft draußen war kälter, als ich erwartet hatte, so dass ich froh über meine dicke Jacke und den warmen Schal war, den ich mir fest um den Hals gewickelt hatte.
Die eisige Kälte ließ die meisten Menschen in ihren warmen Häusern verweilen. Die Straßen und Gassen waren wie leergefegt. Außer einem Hund, der ohne Herrchen den Gehweg entlang trottete und uns gefährlich anknurrte, begegneten wir keiner Menschenseele. Viel lieber hätte ich einen gemütlichen Abend zu Hause am warmen Kaminfeuer verbracht, doch Alinas Überredungskünste, sich mal wieder unter das Volk zu mischen, waren erfolgreich.
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