Deprimierend… aber wenn sie sich heute so ihr Meisterwerk ansah: So ganz unrecht hatte die Nonna nicht gehabt, wenn sie auch ruhig ein Minimum an Takt hätte zeigen können. Nein, das Deckchen kam weg, was sollte sie noch mit Erinnerungen an die Herzlosigkeit der Nonna? Die konnte sie sich auch so gut genug merken.
Die Bücher aus der Teeniezeit würde sie ebenfalls entsorgen – da hegte sie auch keine besonders nostalgischen Gefühle.
Oder doch? Sie ließ die zerlesenen Bücher (treues Pony, erste Liebe…) sinken und horchte in sich hinein. In Henting war sie lange nicht mehr gewesen… wie wäre es, morgen dort spazieren zu gehen und das Gefühl zu genießen, an der Horrorvilla einfach vorbeizugehen? Es auszukosten, dass sie hinterher ganz lässig in den Bus steigen und nach Hause fahren konnte?
Gute Idee.
Sie gähnte und öffnete den Umschlag mit den Fotos.
Ach ja, Klassenfotos!
Da, die achte Klasse. Sie selbst war total dick und hatte sich halb hinter Sandra versteckt, die vergnügt in die Kamera grinste. Eigentlich strahlten alle (war das nicht ganz kurz vor den Sommerferien gewesen? Kein Wunder!), nur Mathilde nicht, die schaute ernst und gefasst in die Kamera: Das Leben ist hart und grausam…
Und die fünfte Klasse: Sie war der Moppel in der ersten Reihe. Gut, dass sie auf dem Boden saß, so fiel die Fülle nicht gar so sehr auf. Wie ein kleiner Kartoffelsack. Aber es gab damals noch einige andere Babyspeckträger in der Klasse.
Bei den anderen hatte sich das in der Mittelstufe verwachsen, bei ihr erst kurz vor dem Abitur.
Wo war hier denn Sandra? Ach ja, dahinten, neben dem süßen Leon, der in der Mittelstufe so schwere Akne bekommen hatte. In Leon hatten sich in der fünften Klasse alle Mädchen verliebt – er aber spielte immer noch mit Matchboxautos, Dragon Cards und seinem vorsintflutlichen Computer.
Mathilde ließ die Fotos auf die Tischplatte sinken. Henting in den mittleren Achtzigern… da gab es ja noch Telefonzellen! Und Briefkästen! Allein deshalb sollte sie morgen in der alten Heimat vorbei schauen, vielleicht hatte die Neuzeit auch dort endlich Einzug gehalten?
Nicht, solange die Nonna noch etwas zu sagen hatte, vermutete sie, steckte die Fotos zurück in den Umschlag und legte den Umschlag quer auf ihre eigenen Bücher. Dann ging sie ins Bett.
Wenn sie ihre Lieber-nichts-anfassen -Haltung richtig durchziehen würde, müsste sie auf dem Sofa im Arbeitszimmer nächtigen, überlegte sie beim Einschlafen, aber dazu war ihr ihr Rücken dann doch zu schade. Immerhin benutzte sie ihr eigenes altes Bettzeug aus Selling und hatte Tante Annis Luxus-Ausstattung nach einer gründlichen Reinigung im Schrank verstaut.
Sie liebte Wochenenden – aber wer tat das nicht? Für diese entspannten Tage hatte sie noch ganz alte verwaschene Jeans und einen Pullover, den sie sich vor bestimmt zehn Jahren einmal gestrickt hatte – nicht gerade gekonnt, aber das war am Wochenende ja nun wirklich egal, da sah sie schließlich niemand.
Sie frühstückte ausgiebiger als sonst, was bedeutete, dass sie sich mehr Zeit ließ und währenddessen ein Buch las, nicht etwa, dass sie wirklich mehr aß. Seit Jahren aß sie immer das Gleiche, ausgewogen und gesund. Ein bisschen langweilig, überlegte sie und erschrak über diesen direkt ketzerischen Gedanken.
Sollte sie einmal etwas anderes frühstücken als Vollkornbrot, Ei und eine Auswahl an Obst und Gemüse? Aber was? Käse und Wurst mochte sie nicht besonders, Weißbrot war blanker Müll, Müsli war auch nicht so gesund, wie man gemeinhin glaubte.
Vielleicht mal ein Spiegelei?
Zu mühsam.
Sie mümmelte ihre Mohrrübe und überlegte weiter, aber Alternativen fielen ihr nicht ein. Marmeladenbrot? Iih… Sie schnitt den Apfel in mundgerechte Stücke und kaute langsam und genüsslich. Joghurt? Sie mochte keine Milchprodukte.
Himmel, was mochte sie denn?
Vollkornbrot, Ei und Gemüse. Basta. Sie aß ja auch keine Ostereier – außer den hart gekochten – und keine Weihnachtsplätzchen, auf das süß-fettige Zeug wurde ihr nur schlecht.
Mal eine schöne Suppe… ja, gut, aber doch nicht zum Frühstück! Aber vielleicht heute Mittag. Natürlich aus der Dose. Und wenn sie in Henting nicht nur bummelte, sondern mal nachsah, ob der kleine Supermarkt Kant-/Ecke Fichtestraße noch existierte? Der würde ja wohl eine anständige Dose Gulaschsuppe haben.
Oder so eine richtig dicke Pilzcreme… das klang verlockend, auch wenn da garantiert wieder Geschmacksverstärker drin waren. Egal, darüber mussten sich jawohl eher Leute mit Gewichtsproblemen Gedanken machen, und sie war eher etwas zu dünn.
Oder Minestrone?
Ja, vielleicht.
Mittags mal Nudeln? Oder Reis? Aber das machte so müde… Dazu hatte sie im Allgemeinen zu viel zu tun. Gut, am Wochenende war das nicht so tragisch - aber wozu dann das halbe Wochenende verschlafen?
Nein, das war alles Blödsinn. Sie würde jetzt schön nach Henting fahren, mit dem Bus natürlich, so wie früher, und dort ausgiebig spazieren gehen. Und dann würde sie zur Uni fahren und sich bei Salads&More einen richtig großen leckeren Salatteller gönnen.
Genau.
Der Bus war ziemlich leer, kein Wunder - die Hentinger fuhren nicht Bus, die besaßen Autos. Und wenn sie schon fuhren, dann am Samstagvormittag doch eher in die andere Richtung.
Auch gut! Mathilde setzte sich an das sauberste Fenster und schaute wie eine Touristin aus dem Fenster. Wie würde sie Leisenberg und Henting wohl wahrnehmen, wenn sie tatsächlich zum ersten Mal hier wäre? Schwer nachzuvollziehen.
Am Herzog-Roderich-Platz hatten sie ein Eckhaus abgerissen und hoben eine Baugrube aus. Was da wohl hinkam? An der nächsten Haltestelle hatte eine Filiale einer allseits bekannten Einrichtungskette aufgemacht, die vor allem überflüssigen und witzig sein wollenden Schnickschnack führte. Total uninteressant.
Noch zwei Stationen.
Seit wann gab es denn kurz vor Henting einen Erotikshop? Dass die Nonna das nicht verhindert hatte? War sie vielleicht doch nicht so allmächtig, wie alle – nicht zuletzt sie selbst – immer geglaubt hatten? Da musste man ja fast grinsen…
Am Fichteplatz stieg sie aus und sah sich um, dann atmete sie tief ein. Die Luft hier war ja schon gut, das ließ sich nicht bestreiten. Keine Spur von Moder und Gruft, reine Natur und ein Hauch von Frühling. Das waren wahrscheinlich die Kirschbäume da drüben, die gerade am Abblühen waren.
Sie wanderte langsam die Fichtestraße entlang und musterte die großen alten Häuser hinter den bemoosten Steinmauern. Manche waren vom Architektonischen eigentlich schon schön – aber doch etwas düster, man konnte sich gar nicht vorstellen, dass dort glückliche Familien lebten. Oder lag das an ihr selbst, die überall unglückliche kleine Mädchen mit lieblosen Großeltern witterte und so alle Häuser mit der Gruft in der Schellingstraße 17 gleichsetzte?
Immerhin hatte man das kleine Schlösschen Ecke Fichte- und Kantstraße neu gestrichen. Etwas arg quietschrosa, fand sie, aber es sah unbestreitbar fröhlich aus. Hatte die Nonna da nichts zu meckern gehabt?
Jammerschade, dass sie keinen Spion hier hatte… ja, wenn Manuel Keppel noch hier wohnen würde – aber der war bestimmt längst irgendwohin gezogen, wo es geringfügig aufregender zuging. Und Sandra hatte bestimmt längst geheiratet und lebte ein glückliches Leben wie in der IKEA-Werbung.
Was machte sie hier eigentlich?
Warum sollte sich nicht Sandra in der Weltgeschichte herumtreiben und aufregende Projekte durchziehen – und Manuel versorgte die Kinder, während seine Frau einen Vollzeitjob hatte? Woher kamen bloß diese unemanzipierten Denkansätze?
Das konnte sie nicht einmal der Nonna in die Schuhe schieben. Mit Heimchen am Herd hatte sie es gar nicht, kein Wunder, wenn man bedachte, welche Bissgur´n sie selbst war.
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