Seitdem war aber nichts mehr passiert; trotzdem traute Mathilde dem Frieden nicht. Am liebsten wäre sie in eine kleine Mietwohnung gezogen, aber sie hätte die Dreieinhalbzimmerwohnung im Rembrandtweg ja trotzdem sauber halten und heizen müssen. Und das Wohngeld bezahlen. Zwei Wohnungen konnte sie sich mit dem, was sie bei Lingua und mit gelegentlichen Nachhilfestunden verdiente, nicht leisten.
Der Schwebezustand ging ihr aber allmählich auf die Nerven.
Immer noch waren Schränke und Kommoden mit Tante Annis Besitztümern gefüllt, während Mathilde selbst ihr absolut Unverzichtbares in ein einziges Schrankfach und ebenso in ein einziges Regalfach gepackt hatte und alles andere in Umzugskisten in der Abstellkammer und im Flur aufbewahrte. Allmählich konnte sie deren Inhalt wohl unbesehen wegwerfen… was man fast fünf Jahre nicht gebraucht hatte, brauchte man wohl generell nicht mehr.
Wie wohnten wohl andere Leute? Sie kannte eigentlich nur das Haus ihrer Großeltern, groß, düster, prunkvoll im Geschmack der vorletzten Jahrhundertwende und immer schlecht geheizt.
Gut, ab und zu war sie als Kind bei Nachbarn gewesen, Keppels, und hatte mit Sandra gespielt, die Barbies Traumhaus besaß und eine Riesenkiste echter Barbiekleider. Die Nonna hätte nicht im Traum daran gedacht, ihr so etwas zu schenken. Mathilde bekam pro Woche fünf Mark Taschengeld, bis sie achtzehn war, und davon hätte sie sich ja solchen Unsinn kaufen können, hatte die Nonna verkündet. Zu Geburtstag und Weihnachten gab es Wäsche und Kleidung – natürlich auch keine Jeans, sondern graue Kleider mit Spitzenkragen, Faltenröcke und brave Pullover in gedeckten Farben. Zeug, das die Nonna auch selbst angezogen hätte.
Im Nachhinein fragte Mathilde sich, wo sie diesen tantigen Kram bloß in Kindergrößen aufgetrieben hatte – dass es ihr die viele Zeit wert gewesen war, bloß, um ihr die Kindheit zu versauen?
Das hatte übrigens nicht funktioniert – die Nonna war ein, zweimal in der Schule aufgetaucht und hatte Mathildes Klassenkameraden in Angst und Schrecken versetzt. Niemand dachte daran, sie wegen ihrer furchtbaren Klamotten oder der Tatsache, dass sie nie mit ins Kino durfte, zu mobben, alle bedauerten sie und waren extra nett zu ihr. Das nervte irgendwann zwar auch, aber Mathilde wusste natürlich, dass sie dafür dankbar sein konnte.
Sie schüttelte den Kopf. Statt hier düsteren Kindheitserinnerungen nachzuhängen und dabei vom Hundertsten ins Tausendste zu kommen, sollte sie lieber ihre Dissertation zum x-ten Mal durchlesen und sich notieren, was sie eventuell noch einmal nachschlagen musste.
Sie sah etwa zwanzig Seiten durch und fand noch einige Schwachstellen, dann schweiften ihre Gedanken wieder zurück zu Barbies Traumhaus. Sandra hatte irgendwann das Interesse an ihr verloren, weil Mathilde kein Barbie-Equipment mitbringen und auch keine Gegeneinladungen bieten konnte. Dabei hätte sich ihr riesiges Zimmer gut dafür geeignet, Barbies sämtlichen Krempel auf einmal aufzubauen.
Riesig, kalt und halb leer, erinnerte sich Mathilde. Riesig wohl auch nur deshalb, weil es in der Hentinger Villa einfach keine kleinen Zimmer gab. Unter vierzig Quadratmeter war da nichts zu finden. Ihre frühere Wohnung – im Legohaus – war insgesamt kaum halb so groß, aber geschickt eingerichtet. Eigentlich hatte es ihr dort ganz gut gefallen…
Sie seufzte und arbeitete weiter. Was brachte es schließlich, über die Vergangenheit nachzudenken?
Bis Freitag hatte sie ihre Arbeit zum gefühlt zwanzigsten Mal durchgesehen und einige ertragreiche Stunden in der Unibibliothek und der Bibliothek des Romanistischen Instituts zugebracht und war jetzt davon überzeugt, dass sie alles, was es über einige weniger bekannte deutsche Autoren und ihre Flucht über die Pyrenäen nach Spanien zu wissen gab, herausgefunden und griffig und perfekt belegt dargestellt hatte. Bis zum Herbst würde sie allerdings die Arbeit noch einige Male durchfieseln müssen, das war ihr auch klar.
Im Verlag war sie gut zurechtgekommen und Wintersteiner hatte ihr neben der Arbeit an diesem Schulbuch und dem dazu passenden Übungsheft auch noch die Übersetzung eines spanischen Kriminalromans angeboten.
Das erste Kapitel hatte sie schon fertig, also konnte sie eigentlich recht zufrieden mit sich sein.
Nun sah sie sich etwas unschlüssig in der Wohnung um: Gab es nicht doch eine Möglichkeit, sie etwas bewohnbarer zu machen – ohne sich an Dingen zu vergreifen, für die die Nonna dann womöglich einen astronomischen Schadenersatz verlangen würde?
Im Schlafzimmer fiel ihr nichts ein – es sei denn, sie kaufte haufenweise Umzugskisten, um Tante Annis Garderobe darin zu verstauen – aber dann standen überall die Kisten herum, und das nur, um ihre wenigen eigenen Klamotten zu verstauen? Das eine Schrankabteil reichte doch wirklich aus! Der Kram in den beiden Nachtkästchen gehörte auch Tante Anni, aber obendrauf lag ihr Handy und manchmal noch ein Buch (aus Tante Annis Regalen). Auch das reichte ihr.
Am ehesten nutzte sie noch das Arbeitszimmer. Sie hatte sich erlaubt, Tante Annis Schreibtischgarnitur sorgfältig zu verpacken und in einen Schrank zu stopfen, so dass nun ihr etwas ältlicher Laptop auf der Platte Platz fand. Und auf einer vollgepackten Kiste neben dem Schreibtisch hatte sie ihre eigenen paar Bücher untergebracht; das große dicionario hatte einen Ehrenplatz auf dem Schreibtisch erhalten.
Die übervollen Regale entlockten ihr einen leisen Seufzer – was Tante Anni hier alles gesammelt hatte! Wenn es nach ihr ginge, würde das zu fünfundneunzig Prozent im Altpapiercontainer landen. Na gut, oder im Wertstoffhof. Oder in der Lesefabrik in der Graf-Tassilo-Straße – aber die würden diesen Kram wohl auch nicht mehr haben wollen.
Eher noch den Edelkitsch, der die Regale im Wohnzimmer verstopfte. Oben Regale, darunter Schränke voller Porzellan, Silber und allerlei Schnickschnack.
Weiteres Porzellan füllte die Oberschränke in der Küche; sie selbst besaß gerade einen Satz schwarze Teller, Besteck für sechs und zwei Kaffeebecher. Und das wohnte alles auf dem Trockengestell. Ach ja, und sechs Saftgläser gab es auch noch.
Diese Askese wurde nur dadurch gestört, dass sie im Zweifelsfall Tante Annis Brotmesser und Tante Annis Gurkenhobel zu verwenden pflegte; immerhin spülte sie sie hinterher aber auf das Gründlichste ab.
Frustriert wandte sie sich den Kisten in der Abstellkammer zu und zerrte sie in den Flur: Vielleicht konnte man tatsächlich etwas daraus loswerden? Vielleicht sogar aus drei Kisten zwei machen?
In der ersten Kiste fand sie ihre Winterjacke, die sie eindeutig noch brauchte, ihre Winterstiefel, ordentlich geputzt und in einen halben Meter Küchenkrepp eingeschlagen, Schal und Handschuhe aus dunkelgrauem Fleece und zwei recht ordentliche Halstücher. Sie entfaltete sie: gar nicht so schlecht! Das eine hatte sie schon fast zehn Jahre, sie hatte es auf einem Jahrmarkt gewonnen. Baumwolle, dunkelrot mit weißen Pünktchen und Streifen. Das konnte vielleicht ganz gut zu ihren grauen Sachen passen…
Das andere sah recht edel aus, bedruckt mit Pferdeköpfen und Hufeisen – aber es war aus 100 % Polyester. Nein, das kam weg. Auf dem Grund der Kiste entdeckte sie noch einen Umschlag mit einigen Fotos, zwei Bücher aus ihrer Teeniezeit und ein krumm und schief besticktes Leinendeckchen. Sie nahm die letzten Fundstücke heraus und packte ihre Winterausrüstung wieder zurück in die Kiste, dann setzte sie sich mit ihrer Ausbeute wieder an den Schreibtisch.
Das Deckchen hatte sie mal im Handarbeitsunterricht verbrochen – mit etwa zehn Jahren - und voller Optimismus der Nonna zu Weihnachten geschenkt. Der Versuch, den Drachen milde zu stimmen, war aber gescheitert, die Nonna fand das Deckchen hässlich und schlecht gestickt und verweigerte die Annahme.
Читать дальше