1 ...7 8 9 11 12 13 ...20 „Kannst du laut sagen. Also, halt mich auf dem Laufenden und mach mit deiner Wohnung, was du willst!“
Mathilde sah sich nachdenklich um. Wo sollte sie denn hier anfangen? Alle Schränke, alle Regale waren voll mit Büchern, Ordnern, Zeitschriften, Broschüren, losen Papieren, alten Telefonbüchern.
Andererseits hatte sie viereinhalb Jahre lang in Tante Annis Kruschst gehaust und es überlebt, dann war das alles jetzt auch nicht so eilig.
Fotos – mehr musste jetzt nicht sein.
Okay, wenn sie dabei etwas ganz Überflüssiges fand… Sie holte fürs Altpapier ihre große Recyclingtasche vom Drogeriemarkt, die mal einen ganzen Euro gekostet hatte, und eine alte Plastiktüte für sonstigen Müll. Damit ließ sie sich im Arbeitszimmer vor dem ersten der sieben Unterschränke nieder und öffnete die dunklen Holztüren nicht ohne Beklemmung.
Hm.
Papier.
Loses Papier, Umschläge, Mappen.
Dazu brauchte sie Musik, sonst würde sie wahnsinnig. Also rappelte sie sich wieder auf und schaltete das Radio ein.
Begleitet von Verkehrsmeldungen, tiefsinnigen Gedanken zum Sonntag und bekannten Popsongs, bei denen man mitpfeifen konnte, räumte sie das Fach aus und sortierte.
Alte Rechnungen auf einen Haufen, Umschläge auf den zweiten, Betriebsanleitungen auf einen dritten. Musste sie das alles aufheben? Vorläufig wohl schon. Sie packte Rechnungen und Anleitungen zurück in den Schrank und öffnete die Umschläge. Weihnachtskarten aus den frühen achtziger Jahren, toll, von unbekannten Leuten, stellenweise ohne Absender und mit unleserlicher Unterschrift. Auf einer Karte, einer besonders öden (Bleistiftskizze einer Kerze ohne weitere Deko), stand nur der Name Maria – in der Schrift der Nonna. Sozusagen: Ich hab keine Lust, aber Weihnachten muss man ja wohl irgendwas an die bucklige Verwandtschaft verschicken. Aber alle Wohnungen erben wollen!
Sie legte diese Karte beiseite, vielleicht konnte die Polizei daraus ja etwas entnehmen; den Rest warf sie in die Altpapiertasche.
Im nächsten Umschlag entdeckte sie tatsächlich einige Fotos – dickliche, mittelalterliche Damen im Dirndl von unscharfer Bergkulisse. In Schwarzweiß. Und keine Daten auf der Rückseite. Viel Spaß für Malzahn und Schönberger.
Als sie sich wieder aufrappelte, weil der Boden ganz schön hart war, hatte sie wenigstens diesen Schrank einmal durchgesehen und einen netten kleinen Stapel völlig aussagefreier alter Fotos gesammelt. Und die Altpapiertasche war schon halb voll.
Den nächsten Schrank sah sie schon etwas flüchtiger durch, weil sie allmählich die Lust verlor; sie fand darin aber einen Umschlag mit einer Menge stark verschossener Fotos, wieder zumeist in Schwarzweiß, aber einige auch schon in Farbe, und im übernächsten Schrank tatsächlich ein uraltes Album - querformatig, schwarze Pappe, weiße Schrift, sepiafarbene Fotos etwa von der vorletzten Jahrhundertwende. Ein richtiger Schatz, sie musste nur noch herausbekommen, wer hier dargestellt war! Sütterlin lesen konnte sie ja, das hatte sie für eine Seminararbeit mal lernen müssen.
Sie sank aufs Sofa und begann die Fotos auf dem Couchtisch zwischen Tante Annis Nippes zu sortieren, die beschrifteten links, die unbeschrifteten rechts.
Die beschrifteten bezogen sich vor allem auf die Familie: Nonna und Anni als junge Mädchen mit ihren Eltern. Hübsch waren die beiden, alle Achtung! Sogar die Nonna, dieser alte Besen. Dunkel, pikant (blödes Wort, so was sagten wohl nur ältere Herren, die hinter Mädels wie der Nonna in den späten Vierzigerjahren her waren). Nachkriegszeit, eindeutig: alte Armeemäntel, Ruinen, exzellent schlanke Figuren…Oh, Nonna heiratet!
Der Großvater sah auch gar nicht übel aus. Fast schon schön - aber etwas ängstlich wirkte er: Hatte er schon vor der Hochzeit gemerkt, dass die Nonna dem Begriff Selbstherrlichkeit eine ganz neue Qualität verlieh? Wenn man das wusste, sah es fast so aus, als schleife sie ihr Opfer zum Altar… und hinten stand das Datum. 18. Mai 1953… Wann war ihr Vater geboren? 14.3. – nein, die Nonna hatte den Großvater nicht auch noch mit einer Schwangerschaft erpresst. Sie hätte ihn garantiert vorher auch nicht rangelassen… Oder war sie die aktive? Wie die Spinnenweibchen?
Die Großeltern bei irgendeinem Frühwirtschaftswunder-Event – ach ja, Elegantes Heim weihte das neue Geschäftshaus in der Altstadt ein. Mathilde musste wieder lachen – das war doch später der große Skandal gewesen? Der Großvater hatte ein stark beschädigtes, aber noch sanierungsfähiges Jugendstilhaus abräumen lassen und auf dem Grund ein völlig gesichtsloses Wiederaufbaudingsda gebaut. Heute, ja heute war sogar das – mit Stelzen, runden Fenstern und einem leichten Schrägdach – selbst ein Architekturmonument, aber in den Siebzigern war der Großvater bei den Denkmalschützern als DER PLATTMACHER verschrien. Und davon hatte sogar Mathilde, der doch niemand irgendwas erzählen wollte, erfahren.
Was war da heute eigentlich drin? Der H&M war im Erdgeschoss, glaubte Mathilde sich zu erinnern.
Süüüß! Die Großeltern mit Baby - Walters Taufe (Mai 1954). Ein ganzer Stapel, mit zerbröselndem Gummiband zusammengehalten. Walter wird mit Breichen gefüttert, Walter zieht sich am Stuhl hoch (mit gefährlich rutschender Windelhose), Walter wagt die ersten Schritte, Walter spielt mit seinen kleinen Freunden, Walter bestaunt seine kleine Schwester – ihr Vater hatte eine Schwester gehabt? Hinten drauf in Tante Annis sorgfältiger Schrift Gesine Anna Luise, geb. 29.07.1957 . Noch nicht mal fünfzig. Was aus der wohl geworden war? Und aus ihrer Mutter? Beide tot? Ausgewandert? Weggebissen? Das kam ihr sehr wahrscheinlich vor, wenn sie sich die Nonna so vorstellte.
Gab´s von ihrer Mutter denn gar keine Fotos?
Sie suchte weiter. Stapelweise ältere Damen, zwar sorgfältig beschriftet, aber das sagte ihr auch nichts. Erna von Trottow (konnte jemand einen so bescheuerten Namen haben?), Susanne Millreiter, Karin Kampenhausen, das Kränzchen (Großer Gott, aus welchem Jahrhundert stammten denn diese Fotos?). Alle trugen offensichtlich ihre besseren Kleider aus der Vorkriegszeit auf, und die Kuchen, die auf mehr als einem Foto die Kaffeetafel zierten, sahen aus wie aus Ersatzstoffen gebacken. Waren sie wahrscheinlich auch.
Schön auch: Betti und ihr GI . Gefolgt von kleinen gezackten Schwarzweißfotos Betti und Jack, Betti und Megan, Betti und Priscilla, Betti und Ernest, Betti und Elizabeth, Betti und Gilbert … darauf immer eine sachte alternde Betti, die strahlend einen Säugling hochhielt. Mathilde zählte durch: sechs Kinder! War der GI von einer Sekte gewesen oder streng katholisch oder zu blöd, ein Kondom zu benutzen? Aber in den frühen Fünfzigern tat man so was in einer Ehe wohl auch nicht, da waren Kinder sicher auch in den USA ein Geschenk Gottes. Dort wahrscheinlich noch mehr. Kinder waren ja auch sicher was Nettes – aber gleich sechs Stück? Arme Betti!
Ach nein, doch nicht. Marias achtzehnter Geburtstag, 03.11.1947 . Um die runde Tafel saßen eine jugendlich strahlende Nonna, eine noch etwas picklig wirkende Anni, würdevolle Eltern und ein einzelner älterer Herr („ Onkel Wilhelm “). Betti servierte gerade in Häubchen und Schürze. Lieber sechs eigene Kinder haben als Dienstbolzen bei den alten Halnweins spielen! Hatte sie sich bestimmt auch gedacht und fleißig nach einem geeigneten GI Ausschau gehalten.
Mathilde legte einen Betti-Stapel an und suchte weiter.
Da, Walter und Anette, 1976 . Großer Gott, ihre Mutter war noch ein Baby gewesen! Wie konnte man mit fast zwanzig noch so ein Kindchenschema spazieren tragen? Große dunkle Augen. Ob sie die geerbt hatte? Die Farbe schien zu passen, aber so kulleräugig war sie nicht. Wollte sie auch nicht sein, sie war doch kein Plüschtier! Die dunklen Haare konnte sie auch geerbt haben, allerdings ohne Löckchen – Walters glatte Haare kamen ihr deutlich bekannter vor.
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