Der gelbe Bagger hatte ein Stück zurückgesetzt, was dem völlig vermoosten Rasen wohl den Rest gab. Zwei Arbeiter machten sich daran, eine Abrissbirne am Bagger zu befestigen – offenbar eine mühsame Aufgabe. „So ein Ding muss ja ordentlich was wiegen“, sagte Willi in diesem Moment. Henni lachte. „Hab ich mir auch gerade gedacht. Darauf ein Schlückchen!“
Schließlich hing die Stahlkugel in der richtigen Höhe und der Baggerausleger hob sich.
„Jetzt!“ Henni staunte, wie aufgeregt sie war. Willi stellte sein Glas ab und zückte sein Handy. „Gut, dass die Kamera ein Tele hat… Moment, so, das wird gut. Ich schick´s dir dann, ja?“
„Unbedingt!“
Die Kugel schwang zurück und dann vor und schlug ein beträchtliches Loch in die Hauswand knapp oberhalb der Wohnzimmerfenster.
Willi ließ seine Handykamera aufgeregt surren. Henni kniff die Augen zusammen: „Was ist das graue Zeug zwischen den Wandplatten?“
„Sieht tatsächlich aus wie alte Zeitungen“, murmelte Willi, der durch das Teleobjektiv mehr sah. „Das war sogar für damals zu schundig gebaut! Pappe und Zeitungen?“
„Na, Pappe? Aber Rigips geht doch auch nicht für Außenwände, oder?“
„Wer hätte sich damals beschweren wollen? Immer noch besser als eine Baracke in Dachau.“ Willi fotografierte, was das Zeug hielt.
Beim nächsten Schlag stürzte an dieser Stelle das steile und praktisch ungedämmte Dach teilweise ein. Mehrere Kartons stürzten auf den Rasen und entleerten sich.
Henni kicherte geniert. „Haben wir den Plunder auf dem Speicher vergessen?“
„Schaut so aus. Ist doch egal, wir wussten doch eh nicht, was da oben war. Was man nicht kennt, kann man nicht vermissen, oder?“
„Ja, aber nachher sollten wir doch mal schauen. Vielleicht gibt es peinliche Fotos, da haben wir dann doch was zu lachen. Und wir können Ulli und Luggi raten lassen, was drauf ist.“
Tatsächlich stoppte der Bagger und Bernberger eilte auf die beiden zu. „Wollen Sie schnell schauen, ob in den Kisten etwas ist, was Sie retten wollen? Aber nicht lange, wir haben einen ziemlich engen Zeitplan!“
Henni erhob sich und erschreckte Bernberger sichtlich, denn sie war einen guten halben Kopf größer als er. Willi folgte ihr zu den Kisten, aus denen vor allem Stoffe herausquollen. „War das nicht Mamas Schlabberhose mit den Mohnblumen darauf? Ein scharfes Teil“, kommentierte sie, ohne nach dem Stoff zu greifen. Stattdessen hob sie ein in dunkelrotes Plastik mit Goldrand gebundenes Album auf. Willi fand noch ein passendes in grellem Türkis. „Einen Geschmack hatten die damals in Fotoalben… voll die Siebziger“, kommentierte Henni kopfschüttelnd.
„Was erwartest du? Die Siebziger waren doch das Jahrzehnt des schlechten Geschmacks“, rief Willi ihr zu, der mit der Schuhspitze einen weiteren Haufen rasch durchstöberte.
„Quatsch, das waren die Achtziger!“, rief Henni zurück und hob ein weiteres Album auf – Querformat, Stoffbezug in trübem Streifendessin, naturbraune, leicht ausgefranste Seiten innen. Toll, das musste noch viel älter sein!
„Ich sehe nur noch Mist!“, rief Willi da wieder. „Moment – was ist das denn?“ Er winkte ihr zu und sie eilte zu ihm hin. „Was hast du da?“
Er zeigte es ihr. „Iih!“ machte Henni prompt, als sie den Bierseidel in Form einer nackten Frau sah. „Wieso ist das Mistding denn nicht kaputtgegangen?“
Willi grinste und klopfte darauf. „Echt Plastik. Du willst die Tussi nicht? Dann wäre sie was für den Luggi.“
„Langsam glaubt seine Sybille, dass er früher der totale Schwerenöter war. Aber er würde sich sehr nett aufregen.“ Sie kicherte. „Und wenn er das Ding auf den Wertstoffhof bringt, schauen sie ihn dort auch recht merkwürdig an…“
„Wahrscheinlich muss dann Sybille den Kram wegfahren“, vermutete Willi und klemmte sich die nackte Schöne unter den Arm.
Bernberger eilte wieder herbei. „Sie sind fertig?“
„Ja. Drei Fotoalben, der Rest dürfte Plunder sein. Kann alles in den Container, wenn von Ihrer Truppe niemand etwas davon haben will.“
Bernberger zuckte die Achseln und machte dem Baggerfahrer ein Zeichen; die Abrissbirne setzte sich wieder in Bewegung.
Nach einigen weiteren Attacken – die Gartenseite war bis etwa einen Meter über dem Boden eingestürzt – hielt der Bagger wieder inne.
„Müssen die den Kram nicht sortieren?“, überlegte Henni. „Wegen Wiederverwertung?“
„Meistens sortieren sie nur Kunststoff und Wertvolles aus“, erklärte Willi. „Hier gibt´s ja wohl weder – noch.“
„Das Holz von den Fensterrahmen könnte man doch wenigstens noch verbrennen?“
„Das klaubt doch gerade einer raus. Vorher hätte man das bisschen verrottete Holz ja noch mühsam aus der Wand brechen müssen.“
Willi hatte Recht, stellte Henni fest – ein Arbeiter hob die zersplitterten Fensterrahmen mit den Resten weißer Farbe auf und schüttelte die Glassplitter ab; ansonsten lagen vor allem zerbrochene uralte Dachziegel und Mauerbrocken, aus denen die dubiose Füllung heraushing, auf dem Boden. Auf der Vorderseite hängten zwei andere Arbeiter gerade die hölzerne Haustüre aus und warfen sie in den kleineren der Container, dann hörte man Sägegeräusche.
„Treppengeländer“, vermutete Willi und schenkte sich Prosecco nach. Henni stand auf und näherte sich der Ruine. Einige Fetzen der Tapete hingen noch an den Mauerbrocken und noch stehenden Mauerresten und verströmten genau jenen klammen Geruch, den sie mit ihrer Kindheit in diesem Haus verband.
Naserümpfend kehrte sie zu Willi zurück. „Bilde ich mir das ein, oder war die einzige Zeit, in der wir uns darin nicht den Hintern abgefroren haben, Weihnachten?“
Willi brummte zustimmend. „Das waren die vielen Kerzen am Baum. Weißt du noch, unser allabendlicher Wettkampf?“
Henni lachte. „Wessen Kerze am längsten durchhält? Ich war als Kleinste logischerweise auch die Doofste, immer wieder habe ich mich in schöne lange Kerzen weiter oben verliebt. Bis ich mal kapiert habe, dass die untersten am längsten halten…“
„Ja, dass du noch Sinn für Physik entwickeln würdest, konnte man damals wirklich nicht vermuten!“
Henni spürte eine sentimentale Anwandlung. „Ja, Spaß hatten wir schon, aber die Hütte war doch furchtbar. Und ganz ehrlich – Papa und Mama mochten sie doch ja auch nicht.“
„Woher denn! Aber vier Kinder und nur ein Gehalt? Da musste man wohl um das verschimmelte Erbe noch dankbar sein, sonst wären wir in einer Dreizimmerwohnung in Spitzing aufgewachsen.“
Henni schüttelte sich unwillkürlich. „Wieso hat Mama sich eigentlich keinen Job gesucht, wenigstens sobald ich in der Schule war?“
„Keine Ahnung. Naja, mit ein paar Semestern – was war´s, Anglistik? Was gibt´s da schon für Jobs…“
„Auch wieder wahr, aber das war doch furchtbar, den ganzen Tag in der Schimmelbude, die hat man doch eh nicht saubergekriegt“, murrte Henni. „Ui, schau mal, es geht weiter!“
Die nächsten Momente waren von sehr befriedigendem Krachen erfüllt, und dann war der Rest des Hauses auch mehr oder weniger verschwunden – nur noch ein flacher Haufen aus Mauerbrocken, Holzteilen, Teppichresten von der Treppe und losen Tapetenfetzen war zu sehen.
„Schäbige Bilanz“, urteilte Henni sofort. „Meinst du, es lohnt sich, noch dazubleiben?“
„Unbedingt! Die schmeißen jetzt alles in die Container und dann müssen sie den Keller noch einreißen oder aufbohren oder wie auch immer… ob das Beton war?“
„Weiß ich auch nicht. Mehr so erdig, oder? War Beton nicht zu wertvoll für gewöhnliches Volk? Haben die damit nicht die Autobahnen gebaut, damit die Panzer flott nach Osten rollen konnten?“
„Oder so ähnlich. Stimmt schon. Schau!“
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