„Mach Fotos!“, verlangte Iris. „Vielleicht ist ja was Interessantes dabei.“
„Dann zeigt deine Schwester es im Unterricht, was?“
„Warum nicht? Alltag unterm Hakenkreuz oder sowas.“
Als Henni am nächsten Tag pünktlich mit Prosecco, Gläsern, etwas Knabberkram in einem Schüsselchen und ihrer Kamera in Zolling ankam, war von Willi natürlich weit und breit noch nichts zu sehen, also gab es noch keine Möglichkeit, sich gemütlich hinzusetzen und den Blick auf die Aktion zu genießen. „Dieser Wichtigtuer“, schimpfte sie halblaut vor sich hin, „erst macht er´s so dringend und dann kommt er nicht? Bricht ohne ihn mal wieder alles zusammen?“
Nun gut, sie fotografierte schon einmal das trübselig dastehende Häuschen, dass seine Hinrichtung schon zu erwarten schien, die eingeschlagenen Fenster, die schief in den Angeln hängende Haustür und das steile Giebeldach, in dem schon einige Ziegel fehlten.
Hatten sie es eigentlich vollständig ausgeräumt, bevor sie es an MayBau verkauft hatten? Oder hatten die es erledigt? Willi fragen, wenn er denn mal auftauchte, beschloss sie und musste grinsen – zum letzten Geburtstag hatten sie ihm „Nur noch kurz die Welt retten“ geschenkt, auf einem richtig teuren 256 GB-Stick, den er wirklich brauchen konnte. Sogar mit seinem Namen eingraviert. Luggi hatte noch gesagt: „Lad dir aber keine Pornos drauf, du kannst den Stick echt schlecht verleugnen.“
Willis Frau Claudia hatte etwas kariert dreingesehen, auch noch, als Luggi schnell behauptet hatte: „War bloß ein Witz, sowas täte der Willi doch nie!“
Henni hatte noch einen draufgesetzt: „Der Luggi schließt bloß mal wieder von sich auf andere!“
Über Luggis Wut freute sie sich heute noch, aber Sybille hatte dann gemeint, wer mit ihr verheiratet sei, habe billige Pornos nicht notwendig, und ihr Geschenk überreicht – eine dezente (fast schon langweilige) Krawatte.
Alle Möbius-Geschwister hatten sich eisern beherrscht, sogar Luggi, dem ein „Schatz, das geht ja gar nicht“ ins Gesicht geschrieben stand.
Henni umrundete den gelben Bagger und fotografierte durch die zerschlagenen Wohnzimmerfenster – leer. Und feuchte, schimmelige Wände. Kein Wunder, hier hatte seit einem guten Jahr niemand mehr geheizt! Das dünne Mosaikparkett wellte sich, mehr war nicht mehr zu sehen.
Wie hatten die den Bagger eigentlich hier hereingeschafft? Und die drei verschiedenfarbigen Container? Sie wanderte um das Häuschen herum und entdeckte, dass auf der anderen Seite der Zaun entfernt worden war und der verdorrte Rasen die Spuren von Baggerketten aufwies. Auch egal.
Das einzige, worum es ihr fast leidtat, war der kleine Zierahorn direkt an dem Zaun vor der Haustür. Ob man den ausgraben konnte? Dumm, dass sie keinen Spaten im Auto hatte…
Immerhin, als sie einen unschlüssigen Blick auf ihren Wagen warf, der einige Meter weiter weg an der Straße stand, entdeckte sie Willi, der mit seinem schwarzen BMW die Straße entlangglitt und schließlich ganz affig vor ihr rückwärts einparkte.
Henni beobachtete das kopfschüttelnd – die Straße war bis auf ihren eigenen Wagen völlig leer, er hätte überall problemlos vorwärts einparken können, ohne sein Können zu demonstrieren. Ach, was hieß hier Können?
Sobald er auf Hörweite herangekommen war, wenigstens wirklich zwei Klappstühle schleppend, lobte sie ihn also freundlich: „Guter Parkassistent, gell?“
Willi zog eine ertappte Grimasse, musste aber dann grinsen. „Noch nichts los hier?“
„Viertel nach zwei – pünktlich sind die nicht, da passen sie zu dir. Aber ich weiß, wo der beste Platz ist, komm!“
Schließlich hatten sie sich so auf der Seite platziert, dass sie beste Sicht auf das noch nicht stattfindende Geschehen hatten. Willi hatte sogar in dem halb eingestürzten Schuppen noch eine Kiste entdeckt, die, zwischen den Stühlen platziert, einen passablen Tisch abgab. Henni stellte gerade die Gläser, die Flasche und die Schale mit dem Knabbergebäck auf diesen Tischersatz, als Willi ausrief: „Na endlich!“
Sie sah auf und spähte über die Reste des Gartentors: „Ach was! Sind die doch schon da…!“
Immerhin sprangen draußen mehrere Männer – und eine Frau – mit Bauhelmen auf dem Kopf aus einem Sprinter und betraten das Grundstück. Einer stutzte, als er sie dort sitzen sah, und wandte sich an einen anderen, der nach einigen Worten abwinkte und dann die Ecke ansteuerte, in der Henni und Willi saßen.
„Herr und Frau Möbius?“
Willi nickte. „Sie sind der Leiter der Abrissaktion?“
„Bernberger. Genau. Und Sie wollen sich das wirklich anschauen?“
„Warum denn nicht? Glauben Sie, es ist zu gefährlich?“
„Aber woher denn, auf die Entfernung… Trotzdem, Helme sollten Sie schon aufsetzen…“ Er reichte ihnen zwei quietschgelbe Helme. Henni setzte ihren auf und nickte zufrieden. Willi besah sich seinen zweifelnd und setzte ihn dann leicht schräg auf. „Flott“, meinte Henni spöttisch.
„Und Sie wollen sich das auch anschauen?“, fragte Bernberger erstaunt. Henni sah zu ihm auf. „Ja, warum auch nicht? Es ist doch interessant, was da alles zum Vorschein kommt.“
„Was soll denn da zum Vorschein kommen? Ein Schatz vielleicht? Ja, die romantischen Vorstellungen der Damen, gell?“ Er zwinkerte Willi zu, der ein Steingesicht aufsetzte.
„Nicht ganz“, lächelte Henni süß. „Ich möchte wissen, mit welchem Mist man damals die Wände gedämmt hat, in der Hütte war es nämlich immer arschkalt.“
„Um es mal damenhaft zu formulieren“, murmelte Willi.
„Hui!“ Bernberger fuhr regelrecht zusammen. „Ganz schön hartgesotten, die Dame – war das nicht Ihr Elternhaus?“
„Mag sein, aber ganz objektiv war es ein Graus. Da wohne ich heute tausendmal schöner.“
Bernberger hatte sich wieder gefasst. „Ja, da muss man den Richtigen heiraten, gell?“
„Wieso? Ich kann mir meine Wohnung schon selbst leisten. Und da geht sogar die Heizung.“
Bernberger fiel ein, dass er mal nach dem Bagger sehen sollte. Leise den Kopf schüttelnd, trabte er davon, und Henni grinste ihm hinterher. „Ein wandelndes Klischee, der Mann.“
„Du hast jetzt wahrscheinlich sein Frauenbild zerstört“, befürchtete Willi, der schon am Korken der Proseccoflasche herumoperierte.
„Oder er hält mich einfach für eine herzlose Bestie“, antwortete Henni und hielt die Gläser für den Notfall schon bereit, „dabei haben wir alle vier das Haus nicht gemocht. Dass wir trotzdem eine ganz schöne Kindheit hatten, hat damit ja nichts zu tun. Und ich glaube auch nicht, dass Papa und Mama, wenn sie uns von oben zugucken, glauben, wir hätten ihr Lebenswerk zerstört – du?“
„Quatsch.“ Willi hatte den Korken endlich aus der Flasche gebracht und schaffte es auch, die beiden Gläser zu füllen, ohne etwas zu verschütten. „Wie oft hat Mama geschimpft, dass sie nicht einmal eine Spülmaschine haben konnte, und Papa über die vorsintflutliche Heizung..."
„Die undichten Fenster, egal wieviel TesaMoll man reingeklebt hat.“
„Die knarrenden Böden. Sogar das Linoleum in der Küche hat geknarrt.“
„Und die Farbe! Wie gespiener Spinat. Wer hat so etwas bloß hergestellt?“
„Die altmodischen Drehlichtschalter.“
„Die Zimmertüren, die immer wieder aufgesprungen sind.“
„Mit den blöden Glasfüllungen, so dass man abends nicht heimlich länger lesen konnte“, ärgerte sich Henni bei der Erinnerung. „Prost!“
Willi stieß mit ihr an. „Du hattest immerhin ein eigenes Zimmer – wir waren zu dritt unterm Dach.“
„Ihr hattet Platz – mein Zimmer hatte ungefähr vier Quadratmeter!“
„Eine Runde Mitleid – hui, schau mal, die fangen doch nicht etwa schon an?“
Читать дальше