„Wieso vegan?“, wollte Iris wissen. „Ich hab den letzten Kabeljau geordert.“
„Ach? Kabeljau darf man essen und Lachs ist ein teures Mitgeschöpf – oder wie?“
Iris winkte ab. „Lass gut sein, Henni. War doch bloß Quatsch.“
„Na gut, lassen wir das Thema. Wisst ihr was? Morgen reißen sie die alte Hütte ab!“
„Welche alte Hütte denn?“
„Na, unser verwarztes Elternhäuschen. In Zolling, für mich aber am falschen Ende.“
„Da müsstest du das Auto zu Leusch nehmen, was? Wo du doch so gerne radelst!“ Tom hatte sich beruhigt und war wieder unter dem Tisch hervorgekrochen.
„Macht dir das gar nichts aus?“ Belli hatte die blauen Augen weit aufgerissen.
„Wieso denn? Die Hütte ist hässlich, heruntergewohnt, außerdem total eng und klein und stört nur auf dem Grundstück, das wir für eine ziemlich anständige Summe verkauft haben. Da kommen mir nicht die Tränen.“
„Ich weiß nicht… das ist doch auch deine Kindheit, nicht? Also, ich könnte das nicht, so kalt darüber reden…“
Henni grinste, sowohl über Bellis Gefühlsseligkeit als auch über den Lachs, der soeben auf dem Tisch erschien, zusammen mit Kabeljau, Nudelsalat und Tortellini.
Sie konzentrierte sich zunächst darauf, vorsichtig ein Stückchen der duftenden Teighülle abzuschneiden und es ekstatisch schnaufend zu verspeisen. „Boah, lecker. Hier esse ich immer noch am allerliebsten! Hältst du mich für kaltschnäuzig, Belli? Dann nimm dies: Morgen schauen Willi und ich auch noch zu, wenn die Abrissbirne hineinfährt. Mit Prosecco und Klappstühlen!“
Belli riss die Augen noch weiter auf: „Das ist aber nicht dein Ernst, doch?“
„Aber mein voller Ernst! Belli, warum sollte ich so pietätvoll sein, wenn es in der Hütte immerzu kalt war, das Linoleum komisch gerochen hat, dauernd die Sicherungen rausgeflogen sind und man die Hakenkreuze in der Haustür nur mit viel Mühe rausfräsen konnte?“
„H-hakenkreuze?“ Iris stotterte vor Abscheu.
„Ja, was denkt ihr denn? Baujahr 38, erbaut von einem ganz Hundertprozentigen!“
„War das dein Großvater?“
„Quatsch, mein Großvater war damals gerade mal aus der Volksschule raus. Vierzehn oder so. Nein, der Nazibonze hatte mit uns nichts zu tun, Gott sei Dank. Seine Witwe hat kurz nach dem Krieg wieder geheiratet, einen Wirtschaftswundertypen mit einem viel besseren Haus. Na, keine große Kunst“, fügte sie gedankenvoll hinzu. „Jedenfalls hat sie die Hütte dann verkauft, ich glaube, 1949. Jetzt wirklich an meinen Opi, der war damals 25 und frisch verheiratet und Omi war schon mit Onkel Klausdieter schwanger…“ Sie grinste. „Der war auch so ein Siebenmonatskind…“
„Ein Mickerling?“, fragte Tom etwas ratlos, was ihm mitleidige Blicke aus drei Augenpaaren eintrug. Männer – von nichts eine Ahnung!
„Nein, Omi war bei der Hochzeit schon schwanger“, erklärte Henni im Tonfall nachsichtiger Geduld.
„Was – ach so.“
„Damals musste man noch schleunigst heiraten“, erläuterte Iris, die bei einer Familienberatungsstelle arbeitete und alles über ungewollte Schwangerschaften im Lauf der Jahrhunderte wusste.
Tom nickte, als sei ihm das natürlich längst klar gewesen, und widmete sich schleunigst wieder seinen Tortellini.
„Also haben meine Großeltern dort Onkel Klausdieter, meinen Vater und Tante Christa großgezogen. In den Fünfzigern war das Haus wahrscheinlich noch ganz annehmbar. Ich meine, da hat man ja auch noch nicht so viel verlangt, nicht?“
„Zumindest haben die Sicherungen nicht so viel aushalten müssen“, gab Tom den Technikspezialisten.
„Ja, und als die Kinder erwachsen waren, sind die Eltern dort weggezogen. Klausdieter war nach Amerika gegangen, Christa hat nach Stuttgart geheiratet, also war Papa alleine dort. Deshalb hat er da eine WG aufgezogen.“
„Hui, so progressiv?“
„Wieso, damals war das die große Mode. Das muss so um 1972 gewesen sein, da war Papa Anfang zwanzig.“
„Aber das deine Großeltern weggezogen sind?“ Iris wunderte sich. „Ich meine, heute machen das ja viele, in einen Kurort ziehen oder nach Mallorca – aber vor vierzig Jahren, sind die alten Herrschaften da nicht einfach geblieben, wo sie waren, bis es – naja – bis es eben vorbei war?“
„Stimmt schon, aber meine Oma hatte ja eine Schwester, die Erika.“
„Spießiger Name“, kommentierte Belli.
„Damals nicht. Die Erika soll in ihrer Jugend toll ausgesehen haben und hat auch prompt einen sehr feinen Herrn geheiratet, einen Adalbert von Dohme. Der hatte eine schicke Villa in München. Nymphenburg, glaube ich. Wirklich mit allen Schikanen. Na, und der ist gestorben, als Papa und seine Geschwister gerade erwachsen waren. Die Erika wollte, dass ihre Schwester bei ihr wohnt, also haben die das gemacht, Christa und Klausdieter sind weggezogen, also konnte mein Vater diese WG aufziehen.“
„Die reinste Familienserie“, spottete Tom, der mittlerweile als einziger schon aufgegessen hatte. „Schreib doch mal einen Roman darüber!“
„Schreiben - ich??“, wunderte sich Henni. „Sonst hast du keine Probleme? Futtere lieber nicht so hektisch!“
„Lass du dein Essen nicht vor lauter Erzählen kalt werden!“, gab Tom sofort zurück.
Henni verspeiste den nächsten Bissen Lachs und Blätterteig, dann sagte sie: „Aber viel erzählt hat er nie über diese WG. Obwohl er und meine Mutter doch damals noch ganz jung und frisch verheiratet waren… eigentlich seltsam.“
„Wieso?“ Iris war ganz Erwartung, die beladene Gabel hoch erhoben.
„Na, komm, erzählen nicht alle Leute gerne von ihrer wilden Jugend?“
„Also, meine nicht. Die waren angeblich früher immer die Allerbravsten und keinesfalls hätten sie irgendwas von den Sachen gemacht, die Vi und mir immer so eingefallen sind…“
„Also haben sie aus pädagogischen Erwägungen gelogen?“, schlug Tom vor.
„Ja, glaube ich auch. Wenn die beiden wirklich so super in der Schule waren, warum haben wir immer noch keinen Nobelpreis in der Familie? Und wenn sie wirklich immer ihr Taschengeld gespart haben, warum sind wir dann nicht steinreich? Und wenn -“
„Wir haben es begriffen“, wehrte Henni ab. „Meine Eltern haben ja die Tatsache der WG nicht verschwiegen, aber einfach keine lustigen Einzelheiten erzählt. Ich weiß nicht einmal genau, wer alles dort gewohnt hat. Lange hat das Ganze sowieso nicht gedauert. Ich glaube, 1972 hat Papa die WG aufgemacht, wahrscheinlich mit Leuten, die er aus der Uni kannte, und mit Mama – und etwa 73 war es damit schon wieder vorbei. Da war der Willi gerade mal unterwegs, wenn überhaupt schon. Dem wollten sie das wohl nicht zumuten…“
„Ist das so eine richtige Nazivilla?“, wollte Iris wissen. „Wegen dem Hakenkreuz, meine ich.“
Henni aß weiter. „Nazi ja, Villa nein. Ein richtiges Siedlungshäuschen eben, in Einfachbauweise, wie es damals üblich war. Kaum zu heizen, dünne Wände, Leitungen zum Teil über Putz. Du weißt schon, wir schaffen für arme Volksgenossen günstigen Wohnraum. Luxus schadet dem Kampf ums Dasein . Bei den Bonzen ist der Luxus natürlich völlig unschädlich.“
„Wie immer eben“, kommentierte Tom, nun wider Willen doch gefesselt.
„Willi und ich sind vor allem auf den Moment gespannt, wenn man eine der Außenmauern mal im Querschnitt sieht. Wir haben uns immer schon gefragt, ob das Haus überhaupt gedämmt ist – und wenn ja, womit zum Teufel. Keinesfalls irgendein wirkungsvolles Zeug, das war wahrscheinlich kriegswichtig und für die Leute zu schade.“
„Alte Zeitungen sollen ja sehr wirkungsvoll isolieren“, schlug Belli vor.
„Uäh“, machte Henni und schüttelte sich. „Dann kommen da womöglich lauter Seiten aus dem Völkischen Beobachter zum Vorschein und wir müssen uns vor den Abbruchleuten noch schämen… Na, mal sehen, wie das morgen so läuft.“
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