Ich hielt dagegen. ‚Und die Oper von Manaus? Dieses exotische Gebilde, das die legendären Kautschukbarone mitten in den Urwald gebaut haben, um die berühmtesten Primadonnen und Stimmakrobaten ihrer Zeit mit irrsinnig hohen Gagen in den Dschungel zu locken und ihnen zu akklamieren?’ ‚Vergangene Herrlichkeit’, meinte Carlotta, ‚aber immer noch deine Welt! Ich lebe im Hier und Jetzt, in einer Welt mit diesen misshandelten, unterernährten und analphabetischen Kindern und ich kann nicht ruhigen Gewissens schlafen, wenn ich nicht tue, was in meiner Macht steht, um ihnen zu helfen. Ich hätte das Gefühl, mein sicheres und angenehmes Leben auf Kosten ihres Leidens und Elends aufzubauen, ja, ihre Not durch meinen Mangel an Mitleid und Solidarität noch zu verschlimmern. Ich will nicht zu diesen Schmarotzern des menschlichen Leidens gehören, wie diese kapitalistischen Ausbeuter der ‚Dritten Welt’, die ihre Rohstoffe klauen und sich die veredelten Produkte dann zu überhöhten Preisen von ihnen abkaufen lassen. Willst du solch ein Schmarotzer bleiben, dann steige in das nächste Cadillac-Taxi und hau ab, damit ich dich nie, nie wieder sehe!’
Ich wollte mich nicht von Carlotta trennen, also gab ich ihr Recht. Was das für zukünftige Diskussionen zwischen uns zu bedeuten hatte, konnte ich nicht vorhersehen. Also stellte ich mich der aktuellen Situation und bot der Kleinen erst mal einen Schluck aus meiner Wasserflasche an und Carlotta fütterte sie mit einer Banane. Dann fragten wir sie nach ihrem Namen und ob sie uns den Weg zu ihrer Wohnung zeigen könne, und machten ihr klar, dass wir sie nach Hause bringen wollten. Die Kleine, sie hieß Elvira, fasste Zutrauen zu uns, und, nachdem ich ihr noch einen Zehner in die Hand gedrückt hatte, sagte sie uns, dass wir mit ihr bis zur Endhaltestelle fahren müssten, und dann sei es nicht mehr weit.
Ich fragte Elvira, ob sie auch einen Papa habe. Sie sagte: ‚Ja, er wohnt bei uns und holt die fremden Onkels ins Haus, aber meine Mama hat zu ihm gesagt, als er mich feste hauen wollte, weil ich seine Flasche Bier umgestoßen hatte, fass das Kind nicht an, es ist nicht dein Kind, es ist mein Kind. Er hat mich dann sofort losgelassen und ich bin zu meiner Mama gerannt und sie hat mich in die Arme genommen und mich beruhigt und gestreichelt.’
‚Ist er böse?’, fragte Carlotta. ‚Nein, nur wenn er zu viel Bier und Schnaps getrunken hat. Er hat mich auch ab und zu in den Kindergarten gebracht oder mitgenommen, wenn er einkaufen gegangen ist. Meine Mama geht nicht mehr aus der Wohnung heraus. Er hat mich auch mit auf die Kirmes genommen und in den Park und hat mit mir gespielt.’
‚Ist dein Papa groß und stark?’, wollte ich jetzt wissen, um das Risiko, das wir eingingen, einigermaßen abschätzen zu können. ‚Nein, er ist ganz dünn und zittert manchmal. Mama sagt immer ‚mein Hänfling’, ‚mein Zitterälchen’ oder mein ‚Ladenschwengelchen’ zu ihm. Wenn sie wütend auf ihn ist, sagt sie auch ‚du Hornochse’, ‚du Mistkäfer’ oder ‚du Schnapshusar’ zu ihm und droht ihm, dass sie ihn in den Hamsterkäfig steckt oder an die Wand klatscht, wenn er ihr noch einmal die ‚Knete’ klaut oder die ‚Fluppen’ versteckt. ‚Mama ist stark wie ein Bär’, schwärmte sie ‚und sie haut alle zu ‚Klumpatsch’, die mir was tun wollen. Aber euch tut sie nichts’, fügte sie treuherzig hinzu, ‚denn ihr seid lieb zu mir!’
In Anbetracht der Tatsache, dass Carlotta Löwenpranken hatte und Karate konnte und ich einen Schlagring unter meinen Manschetten trug und Träger des schwarzen Gürtels war, konnte man dem Besuch bei Elviras Mutter mit einiger Zuversicht entgegensehen. Es war denn auch von der Bushaltestelle nicht mehr weit bis zu dem Mehrfamilienhaus, in dem Elviras Eltern wohnten.
Das Haus war sogar einigermaßen ansehnlich und gehörte offensichtlich zu einer Siedlung, die irgendeine Wohnungsbaugesellschaft für Arbeiterfamilien am Stadtrand errichtet hatte. Die Wohnungstür, die uns nach mehrfachem Schellen und einer halbstündigen Wartezeit dann zögernd geöffnet wurde, gab aber einen Mief von Zigarettenrauch, Hamstergestank und abgestandenem Bier frei, der uns den Eintritt nicht sehr einladend erscheinen ließ. Elvira hatte uns aber schon begeistert als lieben Onkel und liebe Tante vorgestellt, die ihr Bananen, Mangos und Wasser gegeben hatten und ‚hört und staunt 20 Cruzeiros’. Es war der ‚Hänfling’, der uns die Tür geöffnet hatte und uns jetzt höflich die Hand gab und uns in das Wohnzimmer führte.
Hier thronte in einem viel zu kleinen Sessel ein wahrer Fleischberg von Dame mit struppigen Fransen von Haaren, die über das vierschrötige Ackergaulgesicht in alle Richtungen hinausgingen. Die Haut ihres Gesichtes war grobporig, weißlich und jetzt offenbar aus Aufregung etwas gerötet und ihr fetter, plumper Körper erlaubte ihr nicht einmal aufzustehen, um uns zu begrüßen. Gekleidet war sie in eine Art Negligé, worunter sich, wie es sich auch dem zurückhaltendsten Auge nicht verbergen konnte, kein weiteres Kleidungsstück verbarg. Die Dame rauchte und war offensichtlich nicht begeistert davon, dass Elvira Onkel und Tante mitgebracht hatte. Sie bot uns aber immerhin an, uns auf das klapprige Sofa zu setzen, das ihrem Sessel gegenüber stand, und fragte uns, wo wir Elvira aufgegabelt hätten.
Dann ließ sie sich von Elvira das erbettelte Geld geben und schickte sie ins Schlafzimmer, um die Betten zu machen. Darauf rutschte sie ihr Negligé so zurecht, dass ich, der ihr gegenüber saß, den Urwald ihrer Scham nicht übersehen konnte, da sie, wie mir schnell bewusst wurde, mich wohl als in jeder Hinsicht potenten Kunden einstufte und sich ein eindeutiges Angebot nicht versagen konnte. Als sie aber mein Desinteresse bemerkte und Elvira aus dem Schlafzimmer wieder zurückkam, verhüllte sie ihren Venusberg wieder und steckte sich die nächste Zigarette an, die sie ihrem Hänfling, der auf ihre diesbezügliche Frage jeden Besitz einer Zigarette geleugnet hatte, mit einem blitzschnellen Griff aus der Jackentasche gezogen hatte.
Die Unterhaltung bestritt allein der ‚Hänfling’, der heute nicht zitterte, aber von einem offenbar alkoholbedingten Sturz ein blaues Auge und eine aufgeschrammte Backe hatte, die er uns als Folgen eines Trainingsunfalls beim Kickboxen erklärte. Er machte sich zu einem der besten Kickboxer der Stadt und pries auch seinen väterlichen Einsatz für Elvira, die er jeden Tag zum Kindergarten gebracht habe und regelmäßig zur Kirmes und in den nahe gelegenen Vergnügungspark ausführe.“
Frau Schayani rutschte schon einige Zeit unruhig auf ihrem Stuhl herum und unterbrach mich jetzt. „Ich kenne solche Verhältnisse“, sagte sie, „Sie müssen mir keinen Roman über alkoholkranke Sozialhilfeempfänger erzählen. Meine Zeit wird nämlich knapp. Sagen Sie mir klipp und klar, worauf sie hinauswollen, also welche Konsequenz dieser Besuch für Ihre Beziehung zu Carlotta gehabt hat, und sagen Sie mir bitte auch, ob Sie auch heute noch mit Carlotta in Verbindung stehen und über ihren Wohnort und ihre Aufenthaltsorte während ihrer mutmaßlichen Konzerttourneen Bescheid wissen. Sie können mir, wenn Sie es für unvermeidlich halten, beim nächsten Besuch noch etwas über Ihre gemeinsame Reise mit Carlotta in Brasilien erzählen. Heute nur noch das Notwendigste.“
Also stoppte ich den Fluss meiner Erinnerungen und fasste zusammen. „Carlotta kam nach diesem Besuch zu dem Ergebnis, dass die geschickte und gescheite Elvira bei diesen Eltern und in diesen Verhältnissen keine Chance habe, sich normal und ihrer Begabung entsprechend zu entwickeln, und verlangte von mir als einem der reichsten Männer Deutschlands, das Kind aus dieser Familie herauszuholen und ihm eine gute Ausbildung in einem von der katholischen Kirche unterhaltenen Internat in Brasilien zu bezahlen. Ich lehnte natürlich ab und verursachte damit den ersten unreparierbaren Riss in unserem Beziehungsgeflecht, was mir zunächst aber nicht bewusst wurde.
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