Jan Pelzer
Aus dem Leben eines Liebhabers
Die Wandlungen eines Außenseiters
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel Jan Pelzer Aus dem Leben eines Liebhabers Die Wandlungen eines Außenseiters Dieses ebook wurde erstellt bei
Jan Pelzer Jan Pelzer Aus dem Leben eines Liebhabers
Kriegsdienstverweigerung
Der kindliche Virtuose
Erotische Abenteuer eines Kindes
Ein außerordentlicher nächtlicher Parteitag
Verführung
Unglückliche Liebe
Die Unwürdige
Die gelöschten Flammen der Leidenschaft
Ein origineller Opa
Die Fasanenjagd
Opa kriecht unters Bett
Der Wünschelrutengänger
Opa war mein Schutzengel
Zwei jüdische Frauenschicksale
Heloise und Abälard
Leiden eines scheinbar Behinderten
Schwimmen lernen in Nazizeiten
Erlegte Haustiere bei der Jagd im Willinger Forst
In Bergnot
Revolutionär ohne es zu wissen
Russenliebe
Sex-Wette
Rollenspiele
Das Wunder des Heiligen Josef
Ausgehobene Gully-Deckel
Ein krimineller Unternehmer
Abenteuer in Ägypten
Das Vorbild für eine Romanfigur tritt real in Erscheinung
Vernissage mit Rechtsradikalen
Ein Probeverhältnis
Heilfasten
Einquartierung – Ausquartierung
Elternsorge
Unvermeidliche Komplizenschaft
In der Not ist der Mensch bereit einen Pakt mit dem Teufel zu schließen
Für Geld ist auch der Teufel bereit dem Teuflischen abzuschwören
Festnahme des Erpressers
Im Altersheim
Abenteuer in Italien
Ein Traum wird wahr
Impressum neobooks
Aus dem Leben eines Liebhabers
Ich war Einzelkind und litt unter der Nichtbeachtung meiner Eltern. Sie schämten sich, weil ich eine Hasenscharte hatte, und versuchten diese „Entstellung“ und deswegen auch mich vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Wenn „Herrschaften“ kamen und sich mit meinen Eltern im „Herrenzimmer“ unterhielten, wurde ich auf meinen „Abstellplatz“ in die Küche geschickt und mir selbst überlassen. Ich durfte die Gäste nur begrüßen und nur etwas sagen, wenn ich von ihnen angesprochen oder gefragt wurde. Damit mein „Ausschluss“ von der offensichtlich „höheren Gesellschaft“ auch unwiderruflich war, wurde die Tür zum „Herrenzimmer“ geschlossen.
Meine Hasenscharte operieren zu lassen, war meinen Eltern zu kostspielig. Sie erkundigten sich zwar bei einem Spezialisten nach den Chancen und Kosten einer Operation. Aber da dieser keinen hundertprozentigen Erfolg garantieren wollte und die Kosten ihnen einigen Verzicht abverlangt hätten, nahmen sie von einer Behandlung Abstand. Für mich war diese Entscheidung sehr enttäuschend. Ich verlor dadurch viel Zutrauen in die Fürsorglichkeit meiner Eltern und musste meine Entstellung als etwas Unabänderliches akzeptieren lernen. Hierdurch wurde mein Selbstbewusstsein geprägt und ich betrachtete mich fortan als ein minderwertiges und behindertes Wesen. Die Entstellung empfand ich so sehr als mir zugehörig, dass ich auch später, als ich die finanziellen Mittel dazu hatte, keinen Versuch machte, eine kosmetische Korrektur vornehmen zu lassen.
Neben meiner Hasenscharte erschien meinen Eltern auch meine „Linkshändigkeit“ als unnormal. Und so machten sie die größten Anstrengungen, um mich auf die mehr verbreitete „Rechtshändigkeit“ umzustellen. Mit der rechten Hand war ich natürlich viel ungeschickter, als ich es mit der linken Hand gewesen wäre. So galt ich bald als grundsätzlich unpraktischer und „linkischer“ Mensch.
Dies erregte meinen Trotz und Widerstand. Mit Schlägen wurde nun versucht, mir mein eigenwilliges Pochen auf meine Menschenrechte und meine Menschenwürde auszutreiben. Ein derart missratenes Wesen hatte keinen Anspruch auf eine gerechte Behandlung noch auf einen eigenen Platz oder auf eigenen Besitz in einer Gesellschaft der Tüchtigen und Makellosen. Ich hatte demzufolge „zu Hause“ kein eigenes Zimmer. Meine „Schlafstelle“ war in der Diele. Meine Eltern verfügten nach Belieben über mein Eigentum, meine Kleidung, meine Spielsachen, meine Bücher, verschenkten, vertauschten und verkauften sie oder „rangierten sie aus“, wenn es ihnen angebracht oder nützlich erschien. Sie verfügten sogar über mein als Schüler durch Ferienarbeit verdientes Geld. Wenn ich dagegen protestierte und auf der verfassungsrechtlich garantierten Unantastbarkeit meines Eigentums bestand, sagte meine Mutter mir: „Mach die Augen zu! Was du dann siehst, das gehört dir.“ Ich machte die Augen zu und sah „nichts“. Und genau so hatte meine Mutter es auch gemeint. Mir gehörte nichts – schlimmer noch – ich war für sie ein „Nichts“. Ein „entstelltes“ Kind passte nicht zu der glamourösen Selbstdarstellung meiner Eltern, und selbst ein normales Kind wäre ihrer Vergnügungssucht im Wege gewesen. Ein behindertes Kind aber hatte überhaupt keine Ansprüche an sie zu stellen und seine Versorgung war nur ein Gnadenakt von ihrer Seite.
Im Grunde hatte ich in ihren Augen kein Lebensrecht wie normale Kinder. Wenn ich überhaupt eine Funktion für ihr Leben hatte, dann als Requisit für die theatralische Darstellung einer „normalen“ Familie. Diese Behandlung machte mich, da ich selbst schwer unter meiner Entstellung litt, sehr unsicher und ängstlich. Und meine Ängste wurden durch die zeitweilig ungesicherte wirtschaftliche Situation meiner Eltern und durch das Erleben der Bombennächte in der Zeit des Zweiten Weltkrieges noch vergrößert. Ich bekam Zustände, wenn ich abends allein gelassen wurde, was sehr oft der Fall war, da meine Eltern häufig ausgingen, und bildete mir mit meiner lebhaften Fantasie bei jedem Geräusch die schlimmsten Gefahren, das Erscheinen von Räubern und Mördern, von giftigen Schlangen und Blut saugenden Vampiren ein.
Natürlich war das Verhalten meiner Eltern kein Ausdruck von Bösartigkeit und sadistischen Neigungen, sondern von Unreife, von einem falschen Bewusstsein als gesellschaftliche Aufsteiger und von unbewusster Anpassung an den damaligen Zeitgeist. Sie dachten, es sei vornehm, wenn sie das Kind von der Unterhaltung der Erwachsenen ausschlössen. Sie waren geprägt vom Fortschrittsglauben und der Aufstiegsideologie des 19ten Jahrhunderts und hingen – wie viele ihrer kleinbürgerlichen Zeitgenossen auch – einem populären Vulgärdarwinismus an, der besagte, dass das Leben „Kampf ums Dasein“ sei und nur der „Stärkere“ eine Chance habe, sich durchzusetzen. Und diesen „Kampf“ um den von ihnen verinnerlichten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Aufstieg, so meinten sie, hätte ich durch meine entstellende Behinderung schon von vornherein verloren.
Als sie später merkten, dass ich durchaus leistungsfähig war und mich zur Not auch durchsetzen konnte, schoben sie diese Vorurteile vorübergehend beiseite, um sie aber sofort wieder zu reaktivieren, wenn ich ein Verhalten an den Tag legte, das in ihren Augen einem Versagen oder einer Niederlage gleichkam. Vor ihren Freunden verleugneten sie mich tatsächlich noch als über fünfzigjährigen, wohlhabenden Mann und mehrfachen Familienvater, weil ich meinen Betrieb einige Jahre verpachtete, um meinen kreativen Neigungen nachzugehen und ein schwer behindertes Kind aus – in ihren Augen – „asozialen“ Kreisen in meine Familie aufzunehmen.
Wie bin ich mit meiner Situation fertig geworden? Eine Methode, um mich selbst zu behaupten, hatte sicherlich den negativen Charakter der „Verweigerung“. Ich machte die gesellschaftlichen Rituale nicht mit. Ich lehnte die für Kinder in meiner Zeit vorgesehene Ausbildung ab. Ich ging nicht in den Kindergarten, wurde kein Mitglied bei den nationalsozialistischen „Pimpfen“ oder der „Hitlerjugend“ und grüßte auch nicht mit dem „Deutschen Gruß“. Nach der Einschulung suchte ich mir im Klassenraum einen Platz, der am nächsten bei der Tür war, um so schnell wie möglich wieder draußen zu sein, und schwänzte während des ersten Schuljahres etwa die Hälfte der Zeit die Schule. Auch ließ ich mich nach einigen unangenehmen Erfahrungen von keinem Arzt mehr behandeln.
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