Pavel Kohout
Aus dem Tagebuch eines Konterrevolutionärs
Saga
Mittwoch, 21. August 1968
(Fortsetzung)
San Marino
Sie banden mich an einer Säule in einem riesigen Saal fest. Die Decke konnte ich nicht sehen. Ringsum hingen schwere Samtvorhänge. Einer schob sich lautlos auseinander. Ein vielstimmiges ersticktes «Ah!». Kein Zweifel: ich befand mich auf der Bühne.
In der Mitte der ersten Reihe das Gesicht meines Vaters, mehr geahnt als gesehen. Ich wollte aufschreien, aber der Knebel erstickte meine Stimme: Nicht einmal die Gnade des letzten Wortes wurde mir gewährt.
Aus dem Portal trat ein schwarz gekleideter Mann, in der Hand ein glühendes Schwert. Demütigung, Zorn und Verzweiflung mischten sich zu einer Träne. Die Konturen der Dinge und Gestalten vervielfachten sich. Mein letzter Blick sah die Welt so zerstückt, wie sie jene bekannte ungeheure Fliege auf den Schautafeln in der Schule sah. Dann näherte sich das Schwert meinen Augen, und das Bild explodierte in Glut und Schmerz.
Ich riß den Kopf herum. Die Glut erlosch, der Schmerz schwand. Ich öffnete die Augen. Neben mir brannte auf dem Polster einer der Strahlen, die zwischen den Lamellen der herabgelassenen Jalousie hereindrangen. Die Morgensonne mußte direkt gegenüber dem Zimmer stehen.
Auf meinen Wangen verklebten wirklich vergossene Tränen. Sie hatten mich gerettet wie einst Michail Strogoff. Warum hatten sich die unsichtbaren Relais im Gehirn zusammengeschaltet und nach zwanzig Jahren diese längst abgelegte Geschichte nochmals gesendet? Ich drehte den Kopf, um die Traumdeuterin zu fragen. Sie lag neben mir wie eine schöne, balsamierte Leiche. In der Nacht war ihr zu warm geworden, sie hatte das Leintuch weggeworfen.
Ich kletterte über sie hinweg und ging zum Fenster, um die Jalousie aufzuziehen. Durch die offene Tür und die Spalten der Jalousie strömte etwas kühle Luft herein. In Italien freute ich mich jeden Tag wie ein Süchtiger auf diese morgendlichen Minuten, da man atmen konnte.
Die Jalousie bewegte sich nicht.
Ich begann, das System zu untersuchen. Das Band verschwand im Oberteil des Fensterrahmens. Ich versuchte zu ziehen. Sachte, dann stärker. Die Jalousie gehorchte nicht.
Ich brachte einen Stuhl ans Fenster. Auch wenn ich auf den Fußspitzen stand, fehlten mir zwei, drei Zentimeter. Ich wurde langsam unwillig. Der Morgen ist für mich unendlich wichtig. Die ersten Minuten entscheiden den ganzen Tag.
Ich mußte den Tisch holen. Wie immer lagen ihre Sachen darauf herum. Jeden Abend bat ich sie, den Tisch frei zu lassen. Über und über belegte Tische erinnern mich an den Schreibtisch und damit an alle vertanen Stunden der letzten Jahre.
Ich nahm in die Hand: ihre Handtasche, ihren Kamm, ihre Zigaretten, ihren Stift und die nichtabgesandten Ansichtskarten, deren Zahl mit jeder Stadt zunahm, ihr Ronson und zwei halbleere Multifills, ihr Portemonnaie, aus dem tschechische, italienische und österreichische Münzen kollerten, ihre Puderdose, verklebt mit einer rätselhaften Masse, die sie gekauft hatte, um daraus kleine Ballons zu blasen, ihren mit Karikaturen meiner Person und realistischen Porträts südlicher Beaus bekritzelten Notizblock, ihre kaputte Uhr und eine angebissene Banane.
Das alles legte ich auf den Boden.
Dann stieg ich auf den Tisch und versuchte, den Holzrahmen wegzuklappen, um zu den Zugrollen zu gelangen. Der Rahmen war vernagelt.
Eine Stunde früher als sonst begann ich zu schwitzen, und meine Laune verschlechterte sich zusehends. Mit aller Kraft zerrte ich an den Bändern. Da hörte ich Lachen.
Sie mußte mich schon eine Weile beobachtet haben.
– Worüber lachst du? fragte ich eisig.
– Du siehst nicht gerade am besten aus.
– Ich gebe hier keine Schau, erklärte ich ihr, ich versuche bloß die Jalousie zu reparieren, die wahrscheinlich ein Mensch ohne Intelligenz und Gefühl heruntergelassen hat.
– Hast du nicht den Eindruck, daß du es warst, der sie heruntergelassen hat?
Langsam wurde ich verstimmt.
– Du stellst eine Suggestivfrage, obwohl du dich sicher erinnerst, daß wir hier nach Mitternacht angekommen sind, als wir schon zwei Liter Verdicchio in uns hatten. In ähnlichen Situationen bin es gewöhnlich nicht ich, der den Überblick über seine Handlungen verliert. Ich habe dieses Zimmer genommen auf Grund der feierlichen Versicherung, daß es die beste Aussicht habe. Es gab für mich also nicht den geringsten Grund, die Jalousie kaputt zu machen. Die Logik der Dinge weist viel eher auf dich hin, weil du fast alles kaputt machst, was du anrührst.
– Wenn du deine Theorien entwickelst, solltest du es wenigstens nicht nackt auf dem Tisch tun, weil sie dann noch lächerlicher sind.
Darauf stieg ich vom Tisch herunter und sagte einige grobe Worte, was ich schon lange nicht mehr getan hatte. Der Tag hatte es eben in sich. Sie begann zu weinen, was sie ebenfalls schon lange nicht mehr getan hatte.
Beleidigt begannen wir uns anzuziehen. An die morgendlichen Zärtlichkeiten und das Erzählen der Träume war gar nicht zu denken. Aus Rache bestellte ich kein Frühstück.
Während sie sich die Augen malte, versuchte ich nochmals, die Jalousie aufzuziehen. Vergeblich. Obwohl ich frühmorgens grundsätzlich nicht rauche, zündete ich mir eine Zigarette an und versuchte, wenigstens zwischen den Lamellen etwas von der Landschaft zu erblicken. Die Spalten waren jedoch minimal. Vom inserierten Panorama unter dem Felsen von San Marino blieb nur ein armseliger Ausschnitt übrig, der nicht einmal einen Panzerfahrer befriedigt hätte.
Ich schaute mich um. Sie war schon fertig, saß auf dem Bett und sah vor sich hin. Wie immer tat sie mir plötzlich leid. Ich setzte mich zu ihr und legte ihr den Arm um die Schultern.
– Also sei nicht mehr böse, sagte ich, du mußt doch zugeben, daß das auch deine Schuld ist. Du hättest mich nicht auslachen sollen, als ich versucht hatte, dir eine Freude zu machen. Und du hättest schon gar nicht behaupten sollen, daß ich es war, der diese blöde Jalousie kaputt gemacht hat. Wir sind doch da heraufgefahren, damit ich dir die Aussicht zeigen kann. Der Teufel soll sie holen! Wir wollen uns doch nicht den ganzen Tag verderben wegen der blöden Jalousie!
– Ja, sagte sie, das ganze Leben lang versprecht ihr uns herrliche Aussichten, und immer kommt euch irgendeine blöde Jalousie dazwischen.
14. II. 45
Praha
Als die Sirenen aufheulten, träumte mir von A. Ich versuchte, ihr graues Wintermäntelchen aufzuknöpfen, aber meine Finger zitterten, und die Knöpfe wucherten mehr und mehr.
Auf die Vorwarnung folgte unmittelbar der Alarm. Ich zog die Decke über den Kopf, wollte weiter aufknöpfen, aber da war Mutter schon im Zimmer. Wir kleideten uns schnell an, machten die Fenster auf, damit die Druckwelle sie nicht zerbrach, und nahmen unsere Fliegeralarmkoffer. Im dunklen Treppenhaus hörte man Schritte, Stimmen und das Weinen von Kindern.
Gestern noch ging niemand in den Keller. Nachts im Bett hörten wir ohne Angst die alliierten Bomberverbände über der Stadt kreuzen, tags sahen wir sogar zu. Die entfernten Fronten, auf die wir so gewartet hatten, waren plötzlich zum Greifen nahe. Die kleinen glitzernden Punkte hinterließen am Himmel weiße Spinnweben kondensierten Wassers. Wir waren da oben mit diesen Männern, die an unserer Statt auf Deutschland einhämmerten. Auge um Auge, Zahn um Zahn!
Heute mittag fielen Bomben auf Prag. Auf Brücken, Plätze, Wohnhäuser. Ich habe es gesehen! Ich ging über den Hügel des Letná-Parkes in die Schule. In der Wintersonne sahen die Flugzeuge aus wie Weihnachtsschmuck. Ich wunderte mich noch, woher diese lustigen Sprühkerzen dort unten in der Stadt plötzlich kamen. Da erst heulten die Sirenen auf, und gleich darauf übertönte sie ein dumpfer, schrecklicher, dröhnender Lärm.
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