– Genossen, wofür haltet ihr uns eigentlich?
Zugegeben, aus dem Durcheinander von Blabla und Hintertreppenbeleidigungen erheben sich scharf umrissen die Diskussionsbeiträge Dubčeks, Smrkovskýs, Slavíks, Mináčs, Fierlingers, Indras, Biľaks und vor allem natürlich Šiks, der bis zum eigentlichen Wesen der Krise vorstößt. Danach ließe sich das Programm einer Rettungsaktion in vier Begriffen ausdrücken:
Föderalisierung, Rehabilitierung, Demokratisierung und Neues Ökonomisches Modell.
Aber wie wollen sie das verwirklichen, wenn nur Šik allein die Situation der Partei und des Landes als kritisch bezeichnet hat und fast alle übrigen die ganzen Tage lang hartnäckig versuchten, ihm das auszureden?
Mit welchem Wunder wollen sie es durchsetzen, wenn sie nicht durchgesetzt haben, daß das alles in der Resolution steht, wenn sie es zugelassen haben, daß sich auch im Kommuniqué über diese bedeutsame Tagung die obligaten verlogenen Phrasen einschließlich der sattsam bekannten «völligen Einheit und Geschlossenheit» abermals wiederholen? Wie wollen sie das abgestumpfte und ganz und gar mißtrauische Volk für einen solchen Prozeß gewinnen, wenn sie ihm nicht einmal mit einem Augenzwinkern andeuten, wohin es für sie eigentlich geht? Oder wollen sie das alles wieder allein ausfechten?
Mein Gott, wann wird sich in der Tschechoslowakei endlich ein mittelmäßig erleuchteter Politiker finden, der aus der Geschichte lernt, daß dieses seltsame Land bereitwillig seine letzten Hosen dem opfert, der ihm die bittere Wahrheit sagt??
P. S. Gibt es den schon? Eben habe ich zu meinem Erstaunen in der heutigen «Práce» den Leitartikel Josef Smrkovskýs «Worum geht es heute?» entdeckt. Er greift als erster über die Resolution hinaus:
«Es handelt sich nicht nur um eine rein personelle Angelegenheit, sondern um alles, was jeden Kommunisten und jeden Mitbürger interessiert und beunruhigt. Die personelle Lösung im Bereich der höchsten Funktion ist der erste Schritt. Wir wollen so handeln, daß es keinen Unterschied zwischen unseren Worten und unseren Taten gibt. Und Realisten sein. Nichts Unerfüllbares versprechen, dem Volk die Wahrheit sagen, ob sie angenehm ist oder nicht, und gemeinsam mit ihm dann alles entscheiden. Die Deformationen des Sozialismus, zu denen es in der Vergangenheit gekommen ist, bis in die letzten Konsequenzen liquidieren und wiedergutmachen; und nicht zulassen, daß es zu neuen kommt.»
Wenn das tatsächlich eine Chance ist, dann sei uns Marx gnädig, denn es ist mit aller Wahrscheinlichkeit die letzte!
5. V. 45
Praha
Ich schreibe Dir am Ende eines Tages, der mir alles gegeben hat, wonach ich mich gesehnt habe:
die Freiheit und Dich!
Ich sitze an Deinem Bett und sehe zu, wie Du schläfst, verloren im viel zu großen Pyjama Deines Vaters. Nicht einmal das Echo der Schüsse weckt Dich. Du schläfst wie ein Igel, geschützt von den Stacheln der Barrikaden. Auch ich bin eine.
Mir scheint, daß es schon Jahre her ist, aber es war heute morgen, da mich Mutter mit der aufregenden Nachricht weckte:
– Der Rundfunk spricht nur noch tschechisch!
Sie wußte, daß ich heute eine Sendung habe.
– Du solltest nicht hingehen. Was, wenn es jetzt losgeht?
Ich wehrte mich.
– Sie haben mich dafür in der Schule entschuldigt. Was würden sie sich dort denken?
Vater verstand das zum Glück.
– Du bist bald siebzehn. Ich verlasse mich auf deine Vernunft.
Vor dem Studio Nr. 6 standen Robert und Slávek, und mit ihnen Petr. Er hat von seinen Panzergräben endgültig Reißaus genommen. Wir tauschten die letzten Nachrichten aus. Die Sowjets in Brünn, die Amerikaner in Cheb. Wir stritten darüber, ob Prag sich erheben soll. Rob meinte, es sei schade um das unnötig vergossene Blut. Petr, Slávek und ich waren von Grund auf dagegen. Wir haben allzulange in Knechtschaft gelebt. Die Freiheit darf kein Geschenk sein. Die Freiheit muß immer erkämpft werden, wenn ein Volk ihrer würdig sein soll. Rob brachte uns auf die Palmen:
– Um ihrer würdig zu sein, muß das Volk sie erst erleben!
– Sie können uns nicht alle umbringen, pochte ich auf den Tisch. Die es überleben, werden durch dieses Blut stärker. Ausgebügelte Fahnen kleiden nur die Spießervereine. Die Fahnen der Nationen spiegeln den Willen wider, die Wahrheit zu verteidigen!
Eine deutsche Patrouille schritt den Korridor ab. Zwei Jungs, nur um wenig älter als wir. Ihre Mäntel und Helme waren viel zu groß. Die Besatzung des Funkhauses bestand schon seit einigen Jahren aus ein paar älteren Österreichern, die jeder kannte. Es hieß, sie hätten versprochen, die Waffen niederzulegen, wenn wir sie dafür nach Hause ließen. Jetzt hat man sie also abgelöst.
Sie blieben bei uns stehen, der eine nah, der andere sicherte.
– Ausweise!
Wir zogen unsere deutsch geschriebene Mitgliedskarte des Schulfunks hervor.
– Wo ist hier der Ansageraum?
Petr zuckte die Schultern, als ob er nicht verstünde. Der erste machte eine mißtrauische Visage.
– Scheiße!
Er zog drohend sein Gewehr hoch, schob Rob, der ihm im Weg stand, beiseite, und sie gingen weiter. Fast gleichzeitig sprangen wir ihnen von hinten an die Kehle.
Schade, daß wir es in der Phantasie taten! Wir hätten die ersten sein können.
Dann klapperten Deine Absätze im Korridor, und ich vergaß alles, was nicht Du warst. Du sagtest uns, daß die Euren zu einem Begräbnis gefahren seien und daß Du am Abend gern ins Kino gehen würdest. Wir verabredeten uns alle auf sechs Uhr. Es tat mir leid, nicht mit Dir allein zu sein. Wer hätte ahnen können, was das Schicksal für uns bereithielt. Ein grausames Schicksal? Ein herrliches Schicksal!
Die Sendung war nach zehn zu Ende. Slávek hatte den Ikarus gesprochen, wir wie immer den Chor. Ich bin ihm nicht neidisch: ich habe Dich.
Redakteure, Techniker und Schauspieler gingen mit Schraubenziehern durch die Korridore und beseitigten überall die deutschen Orientierungstafeln. Wir halfen ihnen. Das war ein fröhlicher Aufstand. Wer hätte gedacht, wie wertvoll er sich bald erweisen wird!
Als wir Dich dann heimbegleitet hatten, fuhren wir mit der Tram nach Hause. Der Schaffner eröffnete zwei deutschen Fliegern, daß er keine Mark mehr annähme. Weil sie keine Kronen hatten, ließ er anhalten und wies sie hinaus. Dann erklärte er:
– Die Tschechen fahren wir heute gratis!
Wir begannen zu singen. Die ganze Tram machte mit. Vor den Schaufenstern standen Spaliere aus Leitern. Die Ladenbesitzer beseitigten die deutschen Aufschriften. Als ich ausstieg, sagte Rob:
– Also um sechs!
Auf der Verkehrsinsel stand ein Kontrolleur mit einer Flasche und rief:
– Abends um sechs nach dem Krieg! Abends um sechs in der Republik!
Die Deutschen waren wie weggeblasen. Auf dem Adolf-Hitler-Platz flogen die Blechtafeln von den Hauswänden. Eine Menschenmenge mit einer riesigen Fahne zog zum Gebäude des Generalstabs. Sie trug wieder den blauen slowakischen Keil. Sie sangen die Nationalhymne. Ich erinnerte mich an jene Nacht im September 1938, ich war zehn Jahre alt und hielt mich an Vaters Hand fest, als der einäugige General das Münchner Diktat bekanntgab. Damals sah ich in Vaters Augen zum ersten Mal Tränen. Auch damals wurde die Hymne gesungen. Wieviel Tote und Tränen zwischen den beiden Hymnen!
Es war noch niemand zu Hause. Ich stellte den Rundfunk an. Nach sechs Jahren erklangen wieder Sokolmärsche. Voll Freude stellte ich das Gerät ans Fenster und drehte auf volle Lautstärke. Der Einfall lag vielleicht in der Luft. Sofort bebte die Straße in den Fundamenten. Die Menschen winkten einander zu und hingen Girlanden aus rotweißblauen Fähnchen an die Fenster. Plötzlich verstummte der Marsch, man hörte Schüsse und eine erregte Stimme:
– Wir rufen die tschechische Polizei und das tschechische Heer! Kommt uns zu Hilfe ins Funkhaus! Die Deutschen morden unsere Leute!
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