Katja Pelzer - Polstead Hall oder Die Frau in Rot
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Katja Pelzer
Polstead Hall oder Die Frau in Rot
Eine beinahe wahre Geschichte
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Inhaltsverzeichnis
Titel Katja Pelzer Polstead Hall oder Die Frau in Rot Eine beinahe wahre Geschichte Dieses ebook wurde erstellt bei
Polstead Hall oder Die Frau in Rot Polstead Hall oder Die Frau in Rot Eine beinahe wahre Geschichte
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Abspann
Impressum neobooks
Polstead Hall oder Die Frau in Rot
Eine beinahe wahre Geschichte
Kapitel 1
Es war ein fremdes Land. Marie wusste kaum etwas darüber. Doch in seinem Namen lag ein Zauber.
England: Die Menschen dieses Landes hatten die Menschen ihres Landes befreit. Seither sehnte sich Marie dorthin. Als deutsches Au-pair nach England zu gehen, wirkte für Marie wie eine zweite Befreiung. Der Krieg war eine Weile vorbei und im Dorf auf der schwäbischen Alb war es ihr zu eng geworden. Als Tochter des Volksschullehrers erwartete man von ihr, dass sie sich wie ein Vorbild benahm. Doch vorbildlich mochte sie nicht sein. Sie hasste es, alle Augen der Gemeinde auf sich zu spüren. Darum hatte sie unter der Laterne mitten im Dorf einen GI geküsst, den ihre Familie eingeladen hatte, zum Abendbrot. So wie jede Familie einen amerikanischen Soldaten einmal in der Woche einlud. Doch für Marie war der junge Mann mehr als ein Gast, er war eine Chance. Mit seiner Hilfe, mit Hilfe der Laterne und eines Kusses zeigte sie allen, die es wissen wollten, was wirklich in ihr steckte. Dass noch die Hinterwäldler in den allerhintersten Reihen des Kaffs sie sehen konnten. Leider wurde ihnen nur dieser eine GI zum Essen geschickt. Am liebsten hätte sie gleich ein halbes Dutzend unter der zentralen Laterne geküsst. In den 1950ern war das noch etwas. Damit konnte man damals die Leute schockieren. Heute würde wohl kein Hahn danach krähen, wenn Marie mit einer ganzen Hip-Hop-Gang in der Scheune des Nachbarn Orgien gefeiert hätte. Aber damals war das so.
In England war vor einem Jahr Elizabeth II. gekrönt worden. Die junge, hübsche Königin entzückte die ganze Welt. Auch Marie berührte sie. Vor allem ihre Liebesgeschichte mit Prinz Philipp. Denn dieser hatte eine Briefkorrespondenz mit Elizabeth begonnen, als die Prinzessin gerade einmal dreizehn Jahre alt gewesen war, er selbst damals achtzehn. Auch Marie träumte von einem Prinzen.
Der Zweite Weltkrieg war nach einem Jahrzehnt des Friedens noch lange nicht vergessen und die Deutschen galten als das meist gehasste Volk der Welt. Die Stimmung in Deutschland war bedrückend gewesen. Die Schuld am Krieg und an Millionen von Toten lastete auf der gesamten Nation. Marie wollte einen neuen Anfang. Im Januar 1955 war das gewesen. England erschien ihr da genau der richtige Ort.
Ihre Mutter weinte beim Abschied. Der Vater hielt bis zum Schluss ihre Hand und unterdrückte mühsam die Tränen. Marie zwickte das Gewissen. Denn sie selbst war kein Bisschen traurig. Sie freute sich fortzugehen.
Die Großmutter hatte sich dafür eingesetzt, dass Marie zu einer streng katholischen Familie kam. Sie hatte Angst um ihre Enkelin, in diesem „wilden, fremden“ Land.
Auf dem Bahnsteig steckte sie ihr das Marienmedaillon zu, das sie selbst einst zur Kommunion getragen hatte und bat sie, gut auf sich acht zu geben. Marie waren all die Sorgen zu viel. Sie war froh, als sie endlich im Zug saß und sah, wie das Wartehäuschen des Bahnhofs hinter der Kurve verschwand.
„Setz Dich zum Mittagessen in den Speisewagen“, hatte die Mutter gesagt und ihr Geld in die Hand gedrückt. Zum ersten Mal hatte die Mutter ihr keine Brote geschmiert. Sonst gab es immer Graubrot mit grober Landleberwurst. Sie sollte es gut haben auf ihrer großen Reise, sich etwas gönnen. Doch im Zug gab es keinen Speisewagen. Das Magenknurren stellte sich schnell ein und Marie war nach der langen Zugfahrt zum Hoeg van Holland so ausgehungert, dass sie sich sofort Kartoffelsalat mit Würstchen bestellte, sobald sie auf der Fähre saß und noch bevor diese ablegte. Gemeinsam mit zehn anderen Frauen hockte sie wenig später vor den Damentoiletten. Das Schiff schwankte über die hohen Wellen und durch ihre Eingeweide schwappte die Übelkeit.
Das hübsche dunkelblaue Kostüm, das die Mutter ihr für die Reise hatte schneidern lassen, war verschmiert. Ihre gut frisierten kinnlangen Haare hingen in schmutzigen Strähnen um ihr Gesicht und Marie war völlig erschöpft, als sie endlich in England anlegten. Ihr Kopf fühlte sich hohl an. Und statt Freude, dass sie an ihrem Traumziel war, empfand sie Leere.
Ihr Gastvater, Dr. Harris, holte sie mit seinem hellbraunen Morris Minor an der Fähre in Harwich ab und begrüßte sie ohne die Miene zu verziehen. Sie war ein mitleiderregender Anblick, doch er verlor kein Wort darüber. Ganz britische Reserviertheit in grauem Tweed. Außerdem war ihm als Arzt nichts Menschliches fremd.
Auf der Fahrt sprachen sie kein Wort. Marie war zu müde und selbst wenn sie hellwach gewesen wäre, hätten ihr die Worte in der neuen Sprache gefehlt, um Konversation zu betreiben. Dr. Harris schien das nicht zu stören. Er rauchte eine Zigarette nach der anderen und sang dabei Lieder, die Marie nicht kannte.
Kapitel 2
Familie Harris bewohnte in Colchester ein schönes Backsteindoppelhaus direkt an einem großen Park.
Dr. Harris und seine Frau hatten vier Kinder – Peter war sechs Jahre alt, Liza fünf, Tom drei und Ruth acht Monate.
Die drei älteren schauten sie neugierig und wie Marie fand, hochnäsig an. Eine Eigenschaft, die ihr nicht besonders katholisch vorkam. Nachdem Marie sich kurz gewaschen und in ihrem kleinen Zimmer unter dem Dach den Koffer ausgepackt hatte, stellte Mrs Harris ihr Nelly vor. Dann sagte sie etwas wie „have a close look“, zeigte auf ihre Augen und dann auf Nelly und diese nahm sie freundlich aber energisch bei der Hand. Nelly hatte bisher als Haushaltshilfe für die Familie gearbeitet. Jetzt war sie schwanger und Marie sollte ihre Aufgaben übernehmen, so viel hatte sie verstanden.
Als Marie nach ihrem ersten Arbeitstag endlich im Bett lag, war es 23 Uhr. So viel Neues hatte sie aufnehmen müssen und dabei fast kein Wort verstanden. Keiner von diesen fremden Menschen um sie schien auch nur die leiseste Sympathie für sie zu empfinden. Plötzlich wusste sie nicht mehr, warum sie unbedingt hierher gewollt hatte. Ihr Körper schmerzte. Sie hatte nicht gewusst, dass Au-pair sein mehr als Kinder hüten bedeutete. Sie hatte nicht gewusst, dass sie bügeln, putzen, einkaufen und kochen musste.
Ein unendlicher Weltschmerz legte sich auf ihre Brust und machte das Atmen schwer. Wenn wenigstens die Kinder nett gewesen wären, doch die Hochnäsigkeit war den ganzen Tag nicht gewichen. Nur die kleine Ruth war kuschelig und quiekte, wenn Marie sie kitzelte.
Nach zwei Tagen verschwand Nelly auf Nimmerwiedersehen und Marie musste sehen, wie sie allein mit der Arbeit zurechtkam.
Um sechs Uhr rasselte am nächsten Morgen der Wecker und Marie wusste einen Augenblick lang nicht, wo sie war. Sie rieb sich die Augen und erkannte die weißen Vorhänge mit den blauen Blumen. Ihr Herz schlug schneller – England. Es war Sonntag, doch Marie war sofort hellwach. Der erste Tag ohne Nelly.
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