Massimo Carlotto - Die Frau am Dienstag

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Gibt es ein Recht auf Vergessenwerden? Die bitterzarte Geschichte dreier Menschen am Rande der Gesellschaft.
Sie kommt jeden Dienstag zu ihm, zwischen drei und vier Uhr, seit neun Jahren. Er kennt weder ihren Namen, noch weiß er um ihr Geheimnis, das sie allwöchentlich mit gutem Sex und edlen Destillaten zu vergessen sucht. Sie ist ihm nicht gleichgültig, auch wenn sie ihn bezahlt. Bonamente Fanzago, einst erfolgreicher Pornodarsteller, steht nach einem Schlaganfall am Ende seiner Karriere. Was ihm bleibt, sind die Treffen in der Pension Lisbona mit seiner mysteriösen Dienstagsfrau. Die Pension, die der sanftmütige Transvestit Signor Alfredo führt, ist ihm Oase des Friedens und des Rückzugs.
Bis durch ein Verbrechen die dunklen Gestalten aus der Vergangenheit wieder auftauchen und die Dienstagsfrau einholen. Menschen wie sie haben kein Recht darauf, vergessen zu werden.
"Carlotto zählt zweifelsohne zu den großen italienischen Autoren." Hamburger Abendblatt
"Carlotto beschreibt die Unterseite der sichtbaren Wirklichkeit." NZZ
"Carlottos ironische Gelassenheit ist so fein wie bewundernswert." FAZ

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MASSIMO CARLOTTO

DIE FRAU AM DIENSTAG

ROMAN

Aus dem Italienischen von Ingrid Ickler

Die Frau am Dienstag - изображение 1

Für Franco Mazzetto

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Epilog

Danksagung

… und wir sind es, die den Mond leuchten lassen ,

mit unserem Leben, das unter

Lumpen und Glasscherben verborgen ist .

Dieses Leben, gegen das sich die anderen verwahren ,

als wäre es eine Beleidigung ,

oder eine lästige Spinne …

Claudio Lolli

1.

Er kam immer als Letzter zu den Probeaufnahmen. Das war er sich schuldig. Ein alter Recke wie er, der sich von ganz unten hochgearbeitet hatte, musste nichts mehr beweisen. Es hatte eine Zeit gegeben, in der er alles dafür getan hatte, als Erster am Set zu sein und die Hosen runterzulassen. So funktionierte das eben im Pornogeschäft: Zuerst zeigte man, was man zu bieten hatte, und dann sah man weiter.

Heute behielt er die Hose an. Inzwischen wusste jeder, wie er bestückt war, doch wie viele Filme er in jungen Jahren schon gedreht hatte, das wusste nicht einmal er selbst, nur dass er meist der Hauptdarsteller gewesen war. Mit der Zeit hatte er begonnen, sich auf weniger akrobatische, komplexere und anspruchsvollere Rollen zu verlegen, in denen der Sprechanteil größer war.

Heute zum Beispiel sprach er für die Rolle eines Priesters vor, der die Intimität des Beichtstuhls dazu nutzte, eine junge, gelangweilte Hausfrau zu verführen, die ihm in ihrer Naivität gerade ihre fleischlichen Sünden gebeichtet hatte. Statt ihr nach ein paar Ave Maria auf den Knien die Absolution zu erteilen, stürzte er sie in die Abgründe der Wollust. Unterstützt wurde er dabei von seiner Haushälterin, einer hochgewachsenen russischen Blondine.

Die Handlung war ein Klassiker, er kannte den Text in- und auswendig.

„Was suchst du am frühen Morgen bereits hier, mein Kind? Noch dazu mit diesem sehnsuchtsvollen und beinahe lüsternen Blick?“

„Ich muss beichten, Vater. Als mein Mann aufstand, um zur Arbeit zu gehen, wurde ich in Gedanken und Taten in Versuchung geführt.“

„Und du hast dieser Versuchung nicht widerstehen können?“

„So ist es, Vater. Ich habe mich unsittlich berührt.“

„Zeig mir, wie.“

Vom Beichtstuhl ging es ins Pfarrhaus, wo kurze Zeit später auch der eifersüchtige Ehemann auftauchte, der wiederum den Reizen der Haushälterin erlag. Eine Geschichte, in der Kirche und Ehe die Hauptrolle spielten, ein Genre, das vor allem in katholischen Ländern wie Italien und Polen gut ankam und in den USA immer beliebter wurde, wo das von der römisch-katholischen Kirche verordnete schlechte Gewissen seit jeher für sündige Fantasien sorgte.

Für bestimmte Konstellationen war er einfach gut, man könnte sogar sagen, er war der Beste und wusste genau, dass er die Rolle bekommen würde. Deshalb ging er es ruhig an, setzte sich in eine Bar und beobachtete den Hauseingang gegenüber, um seine Konkurrenten in Augenschein zu nehmen. Einige von ihnen kannte er, andere nicht. Sie waren jung und neu im Geschäft. Solche Typen nutzten jede Chance, sich zu präsentieren.

Auf die Frage: „Was kannst du?“ antworteten sie meist: „Alles.“

Falsche Antwort. Im Pornogeschäft musste man sehr präzise sein und seine Fähigkeiten und Kompetenzen genau umreißen können.

Er war immer wählerisch gewesen. Von manchen Rollen hatte er sich möglichst ferngehalten, selbst wenn ihm dadurch eine ganze Reihe von Filmangeboten entgangen war.

Allerdings stellte die Sicherheit, die Rolle in der Tasche zu haben, nicht den einzigen Grund für sein spätes Kommen dar. Er wollte in Ruhe mit Martucci, dem Produzenten, sprechen, und zwar allein, ohne neugierige Zuhörer. Im Filmgeschäft waren Klatsch und Tratsch an der Tagesordnung, vor allem wenn es darum ging, einen direkten Konkurrenten schlecht aussehen zu lassen.

Ihm lag daran, etwas zu erklären, was sich bei den Dreharbeiten zu Italian Sex Sunday zugetragen hatte und falsch interpretiert werden könnte.

Der Film war wie viele andere die Wiederauflage eines Klassikers: Fünf Paare, darunter zwei lesbische, feiern am Pool einer Villa eine Orgie. Er hatte die Hände fest um die Arschbacken einer slowenischen Darstellerin gelegt, mit der er schon oft gearbeitet hatte, als ein Sonnenstrahl auf ihre kupferroten Haare gefallen und er Zeuge eines herrlichen Lichtspiels geworden war.

Gerührt hatte er zuerst aufgeschluchzt, war dann in Tränen ausgebrochen und außerstande gewesen, irgendetwas dagegen zu tun. Und das, obwohl er sie weiter gevögelt hatte, ohne den Rhythmus zu verlangsamen. Dank Papaverin hatte sich sein Schwanz nicht weiter um seine Tränen geschert. Nur den Technikern und den anderen Darstellern war es aufgefallen, wie ihm ihre verblüfften Blicke bewiesen. Später hatte er sich bei allen, noch immer von Schluchzern geschüttelt, entschuldigt.

Die unerfahrene junge Regisseurin, die in ihrer Naivität annahm, dass das Drehen von Pornos in ihrer Biografie lediglich ein winziges Detail bleiben würde, hatte einen Nervenzusammenbruch wie aus dem Lehrbuch hingelegt. Er selbst, der in seiner langen Karriere inzwischen alles gesehen hatte und den nichts mehr überraschte, hatte seine Erektion betrachtet und gewusst, dass er noch mindestens eine Viertelstunde durchhalten würde, und den Kameramann angewiesen, die Szene zusätzlich aus einem anderen Blickwinkel zu filmen, der seine Tränen und seine Gefühlsausbrüche verbarg.

In der Pause war er von den anderen neugierig gefragt worden, was mit ihm los gewesen sei. Da er nicht die Wahrheit sagen konnte, hatte er die Geschichte eines an AIDS erkrankten Freundes erfunden, der nach jahrelangem, heroischem Kampf gegen das Virus am Vorabend gestorben sei. Damit war die Sache erledigt. Das Wort AIDS in den Mund zu nehmen hatte gereicht, um alle weiteren Nachfragen im Keim zu ersticken.

Doch jetzt musste er dem Produzenten versichern, dass sich ein solcher Vorfall nicht wiederholen werde, denn sonst musste er mit Konsequenzen rechnen.

Mit einundvierzig war die Konkurrenz immerhin groß, und er musste sich behaupten. Zum Glück wurden in solchen auf Ehe und Kirche basierenden Geschichten keine Rollen mit Schwarzen besetzt, die ansonsten immer häufiger in den Produktionen auftauchten, nicht zuletzt, weil sie weniger kosteten. Das Rotlichtmilieu war eben das genaue Abbild einer Gesellschaft, die von gleichen Rechten, Gesetzen und Gott faselte, aber ganz anders handelte.

Die weißen Darsteller hingegen, besonders die aus Osteuropa, versuchten ihr Territorium mit den gleichen Argumenten zu verteidigen wie Politiker. Allerdings hielt er sich bewusst von diesen Diskussionen fern, da ihm längst klar geworden war, dass die Schwarzen im Pornobusiness genau wie im Sport bald die Mehrzahl stellen würden. Sie besaßen diese besondere Faszination, die man in der Branche negrame nannte, eine Bezeichnung, die aus dem kubanischen Spanisch stammte und besonders große, attraktive und leistungsfähige Schwänze beschrieb. Eine ursprüngliche, natürliche Manneskraft, die Begehren und Lust versprach. Die Weißen hatten all das verloren.

Vor allem er.

Und ob ihn in Zukunft die Sinnlichkeit einer Brustwarze oder das Lächeln einer Bühnenbildnerin ein weiteres Mal zu Tränen rühren würde, vermochte er weiß Gott nicht zu sagen.

Das ganze Dilemma hatte mit seinem Schlaganfall begonnen. An einem kühlen und grauen Januarmorgen, wie er für die Poebene typisch war, hatte er in der Bar gefrühstückt und war anschließend zum Fitnessstudio aufgebrochen. Unvermittelt hatte er sich irgendwo am Boden liegend wiedergefunden, bis nach neunzehn langen Minuten der Krankenwagen gekommen war, was er eher vom Hörensagen wusste. Seine Erinnerungen jedenfalls waren verworren.

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