Thomas Nobbe - Die Frau in Blau

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"Die Frau in Blau" ist eine Erzählung, in der es um Einsamkeit und Liebe in der Großstadt geht. Vier Frauen und drei Männer treffen aufeinander und entwickeln, im Verlauf von nur knapp vier Wochen, ein komplexes Beziehungsgeflecht, das ihr Selbstbild und ihre Lebenswelt tiefgreifend verändert.
Die Personen sind zunächst Esther, Chefin einer auf Edelstahl spezialisierten Schlosserei, Cora, eine an ihrer Diplomarbeit feilende Studentin und Eva, eine drogenabhängige Prostituierte, außerdem Manfred, Coras Professor, Roland, einer von Esthers führenden Angestellten und Franz, leitender Psychologe einer psychatrischen Klinik. Im Zentrum der Geschehnisse steht jedoch die vierte Frau, Maria König, eine von Franzens Patientinnen, die unter psychotischen Wahnvorstellungen leidet und in diesem Zustand unbewußt die Straßen der Stadt durchwandert. In einer Art Trance gefangen hält sie immer wieder still und starrt in einer seltsamen Pose regungslos in den Himmel. Regelmäßiges Ziel ihrer Ausflüge ist dabei die städtische Anlage und insbesondere der dortige Teich, an dessen Ufer sie, häufig auch nachts, lange verweilt.
Durch eine Reihe mehr oder weniger zufälliger Ereignisse werden die Wege dieser Personen immer enger miteinander verflochten. Maria mit ihrem eigentümlichen, in sich gekehrten Wesen und ihren befremdlichen Gebärden hat auf die übrigen Beteiligten eine zunehmend faszinierende, beinahe suggestive Wirkung und wird, wiewohl meistens geistesabwesend und unansprechbar, ohne eigenes Zutun zum eigentlichen Motor der Geschichte.
Mehr und mehr entwickelt sich der nächtliche Park und jener Teich zu einem quasi allegorischen Ort, an dem, von Maria ausgelöst, eine bis dahin unbemerkte und verschüttete Lebenswirklichkeit in die großstädtische Welt der handelnden Figuren bricht.

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Thomas Nobbe

Die Frau in Blau

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Inhaltsverzeichnis Titel Thomas Nobbe Die Frau in Blau Dieses ebook wurde - фото 1

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Impressum neobooks

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Was habe ich nicht schon alles gesehen!

Müßig durch die Gegend schlendernd und blind durch alle Mauerritzen starrend bin ich ein immerwacher Observant, dem, augenlos, nicht das geringste an diesem Ort entgeht und wenn ich doch etwas verpasse, zwitschern`s mir die Vögelein zu. Ich weiß Bescheid.

Ich weiß, durch Erfahrung gewitzt, dass das Leben ein zarter Organismus ist, ein subtiles Gefüge, mit fein aufeinander abgestimmten Bestandteilen. Ich kenne das dichte Gewebe seiner vielseitigen Verbindungen und vermeiden ängstlich, es zu stören, damit in dem harmonischen Geflecht keine Verwirrung entsteht, keine häßlichen Knoten und Schlingen, damit alles schön glatt und übersichtlich bleibt, auf das ich selber heil und lebendig bleibe hienieden. Kann einem nämlich auch ruckzuck ganz anders gehen. Hab` ich selbst erlebt! Drum rate ich zur Vorsicht. Das Leben ist ein mächtiger Strom, aber selbst ist man nur ein kleines Tröpfchen darin und ehe man sich versieht ist man verdunstet und dahin. Es muß eben alles eine Balance haben, im Lot stehen, ausgeglichen sein. Es kann nicht immer nur ein Kommen geben, es muß auch mal gegangen werden, damit die Rechnung aufgeht, damit die Bilanz stimmt auf beiden Seiten, selbst wenn die, die`s dann gerade trifft, oft ein bißchen überrascht sind, wie schnell die Dinge sich entwickeln können. Und in welch unerwartete Richtung. Wie gesagt: Am Ende gleicht sich alles aus. Aber, andererseits, hat man am Ende nichts mehr davon. Oder wenigstens nicht viel. Vorher aber, so zwischen dem Anfang und dem Ende, da tut sich doch so einiges, da lohnt es sich, ein wenig hinzuschauen, sich kundig zu machen, sich angemessen einzubringen, in jenen Strom, in jenen Organismus, in jenen fein geordneten Stoff mit seinen kunstvoll verwobenen Fäden. Da muß man ein Gefühl bekommen, für die Dinge, für die feinen Strukturen, mit sensiblen Fingern tasten, zurückhaltend sein und, ich sagte es schon, vorsichtig. Man muß auf die feinen Veränderungen lauschen, die beinahe unmerklichen Wechsel im Pulsschlag dieses Körpers, die kaum wahrnehmbaren Ausschläge seiner Temperatur. Man muß sich Zeit nehmen. Sensibel sein. Die Fäden nicht verwirren. Dann gleicht sich, günstigstenfalls, auch Manches lange vor dem Ende aus und ist im Lot und wir haben doch noch was davon. Wie zum Beispiel, dass wir Blinden besser sehen. Und hören. Und empfinden. Niemand hat ein feineres Gespür, für die Ordnung der Dinge, als ein Blinder, dem ein Gott auf`s Haupt geschlagen hat. Darum rate ich ja so dringend zur Vorsicht. Ich fälle keine Urteile, ich trete, nach Möglichkeit, keiner Schlange auf den Kopf, ich respektiere die Nackheit der Götter und plaudere keine Heimlichkeiten aus. Gestützt auf meinen Seherstock aus Kornelkirsche lausche ich dem Vogelsang und bewahre aufmerksam mein Gleichgewicht. So kann man auch als Blinder lange leben. Irgendwie gleicht sich am Ende alles aus. Wir werden ja sehen!

In flimmernder Hitze liegt die Landschaft, leer und unermesslich, ausgestreckt unter einem stählern blauen Himmel, in totengleicher Stille. Durch das nur von Staub getrübte, gleissende Licht des Mittags nähert sich, aus weiter Ferne kommend, eine kaum wahrnehmbare Gestalt mit unscharfen Konturen, die an den Rändern wie zerfliessen, in der irisierenden, flimmernden Luft. Mit jedem ihrer Schritte wirbelt in kleinen Wolken der Staub von dem Pfad auf, auf dem sie beharrlich und zäh dahinschreitet, steigt träge in die Höhe und legt sich dann allmählich in einer langen Fahne hinter ihr nieder, langsam dünner und dünner werdend, sich verlierend in der Ferne und der Weg hinter ihr ist wie ein Band, angeheftet an ihren Schritt, in sachten Windungen sich ausdehnend bis an den Horizont, in dieser ungeheuren Weite, in der alle Bewegung seltsam vergeblich und verloren wirkt. Regungslos steht die Sonne hoch oben im Zenith. Unmerklich nur und kaum erkennbar kommt sie näher, diese schillernde und unwirkliche Gestalt, kaum das sie wächst und größer erscheint, durch die sich langsam verringernde Distanz und die Zeit fließt träge und zäh, wie dicker, schwerer Saft. Ist das ein Tuch, das sie dort um sich geschlungenen trägt oder ein Umhang? Etwas aus Stoff reicht ihr vom Kopf bis zu den Füßen, weich fliessend, geschmeidig, sich anpassend an jede Bewegung ihres Körpers, an jede Bewegung der Luft, die unscharfe Kontur ihres Körpers noch weiter verwässernd, selbst die Farbe wie Wasser und wie der Himmel, ein stählernes Blau auf einem staubigen, endlosen Weg.

Ich liebe diesen Blick aus meinem Fenster!

Selbst durch das doppelte Glas hindurch spüre ich das Pulsieren und Atmen, den kraftvollen Rhythmus der Stadt. Durch die Mauern des Verwaltungshäuser-Meers dringt, wie eine feine Schwingung, die Vitalität der Menschen nach draußen, die Kraft ihrer Bewegung, die Intensität ihrer Energie, ihr machtvoller Willen, der sich Bahn bricht in diesem Netzwerk aus Straßen, Kanälen und Leitungen, Röhren und Drähten, vielfach verschlungen und ineinander verwoben und doch in einer feinen Ordnung, wie ein Uhrwerk mit seiner präzisen Mechanik. Durch die Straßen schiebt sich, nicht abreißen wollend, der dichte Verkehr, geschäftig und zielgerichtet, Lastwagen und Autos, Motorräder und Roller und hunderte, tausende von Menschen mit Koffern, Beuteln und Taschen, emsig und strebsam, niemals im Stillstand, nie ohne Bewegung, niemals ohne irgend ein Ziel. Ich spüre das Pulsieren, spüre den Atem, wie wenn es mein eigener wäre, spüre, wie es mich mitnimmt und durchdringt und erfüllt mit Energie, prickelnd wie elektrischer Strom in meinem Körper, auf meiner Haut, wie ich ein Teil bin jenes mächtigen Getriebes, das seine Kraft durch meine Gelenke schickt, durch meine Muskeln, meine Nerven, mein Gehirn und wie ich selber vorwärts treibe, mit meiner eigenen Kraft, die Räder und Achsen um mich herum und meinen Beitrag leiste zu dieser umfassenden Spannung und Elektrizität.

Ich liebe es, tagsüber in meinem Büro zu sitzen, durch seine gläserne Front auf die Beschäftigten im Vorzimmer zu blicken, zu sehen, wie sich alle auf ihre Weise in den fein organisierten Mechanismus meines Betriebes einfügen, wie sie alle, konzentriert über ihre Schreibtische gebeugt, dann und wann verstohlene Blicke zu mir werfen, zu mir, der Lenkerin, der Wissenden, der Vorkämpferin, die ich an meinem Schreibtisch stehe, mein Kleid wie eine leichte Rüstung, das Telefon in meiner Hand wie eine kurze Lanze, wie sie sich meiner versichern, dass ich noch da bin, hier bei ihnen, um sich anzudocken an meine Vitalität und Energie, meine Ausstrahlung. Ich liebe es, durch mein Telefon verbunden zu sein mit der Stadt und der Welt um mich her, mit wenigen Sätzen über den Draht die Dinge zu bewegen, zu lenken, zu beschleunigen, aufs richtige Gleis zu setzen, das Gefühl, dass durch die Leitung ein belebender Strom in meinen Kreislauf fährt und mich anfüllt mit Lebendigkeit, die in mir zirkuliert, der ich in diesem Moment, nach Stunden intensiver Arbeit für einen Augenblick am Fenster stehend, wohlig geniessend nachspüren kann.

Von unten her kann ich aus der Werkstatt das Hämmern und Klopfen der Arbeiter hören, mit ihren schweren Werkzeugen, Metall auf Metall, dazwischen Stimmen und Rufe, während aus dem stahlblauen Himmel die Sommersonne ihr gleissendes Licht auf tausende Dächer und durch tausende Scheiben wirft, eine klare Helligkeit, in der die Dinge erkennbar sind und eindeutig und verbunden miteinander durch einen bestimmenden, wollenden Geist. Ich höre auf das Pochen der Hämmer, wie auf das Pochen meines Herzens, ein rhythmisches Dröhnen schallt zu mir herauf, gedämpft durch das dichte Glas der Fensterscheibe und für einen Augenblick überlasse ich mich dem gleichmässigen Klang, dem Rhythmus meiner Firma, in dem ich aufgehe und zuhause bin.

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