Thomas Nobbe
Zimmers Turm
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Inhaltsverzeichnis
Titel Thomas Nobbe Zimmers Turm Dieses ebook wurde erstellt bei
1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Impressum neobooks
In der vibrierenden Luft von Lisa Lands geräumiger Wohnung wiegen und schwingen sich die Gestalten der Gäste im gedämpften Licht, während aus den Lautsprechern der Stereoanlage jemand wiederholt behauptet, er habe den Sheriff erschossen. Verstreut auf Tischen und Schränken stehen Flaschen und Gläser sowie halb- und ganz abgegessene Teller, auf denen vereinzelt noch Olivenkerne und Zahnstocher liegen. In der durch die Bewegung erhitzten Luft überflüssig gewordene Kleidungsstücke liegen verstreut auf Stühlen und Polstern, während an den Wänden entlang auf dem Boden Schuhe, die ihren Trägern beim Tanzen zu unbequem geworden sind, eine leicht kurvige schwarz-braune Linie bilden.
Wie üblich etwas abseits des launigen Betriebes, sitzt, tief in die Polster seines Sessels eingesunken, lang und schlaksig, die Knie in dem tiefen Fauteuil beinahe in Kinnhöhe, mit einem hageren Schädel, der durch die scharf geschnittene Hakennase ein beinahe raubvogelartiges Aussehen erhält, mürrisch aus Gewohnheit und, wie stets, unzufrieden mit sich und unzufrieden mit Allem, der bekannte Kritiker des "Städtischen Boten" Holger Fahrt und beobachtet mit seinen schmalen beweglichen Augen das Treiben um ihn her. Mehr als die vom Rhythmus des Sheriff-Bezwingers initiierten Bewegungen der Tänzer inmitten des Wohnzimmers, interessiert ihn im Augenblick aber die Gastgeberin selber, die, unweit von seinem Sessel, mit der ihr eigenen Eindringlichkeit und, infolge der Lautstärke mit der der bekennende Schütze von seinem Abenteuer singt, mit stark erhobener Stimme einem ihr gegenüberstehenden jungen Mann mit dünnem Haar und vorzeitigem Bauchansatz, unter exzessiver Zuhilfenahme von Armen und Händen die nicht zu überschätzende, hörst du mich, überhaupt nicht zu überschätzende Treffsicherheit und Präzision, mit der ein Satz wie "Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen", wie der Schnitt eines Herzchirurgen durch die Haut, die Hülle hindurch, direkt ins Zentrum des nun folgenden Geschehens führt, verdeutlicht, einem Satz, passgenau platziert, verstehst du, ohne Umschweif gleich ins Herz der Sache und überhaupt Proust, zu unrecht nur noch wenig gelesen weil zu lang für unsere schnellebige Zeit, obwohl es ja um Zeit nun gerade in ganz prominenter Weise geht in dem Werk und schon in seinem Titel, aber eben, wer hat die heute schon oder vielmehr nimmt sie sich und alles das, was sagen wir seit dem zweiten Weltkrieg insbesondere hierzulande geschrieben worden ist, ist ein bloßer Abklatsch, was sage ich, eine Verhöhnung der Literatur, die vorher war und welcher Autor wollte denn auch schreiben nach Döblin, nach Joyce und Thomas Mann, insbesondere heute, wo, wie Arno Holz so treffend formuliert, auf den Dichter-Leiern nur noch dünne Därmchen schnurren und so weiter und so fort und in diesem Sinne noch einiges mehr mit von den Umständen erzwungenem Schalldruck ihrem geplagten Gegenüber in die solcherart doppelt belasteten Ohren. "Marquez!" wirft Holger, dem musikalisch und literarisch zugleich beschallten Bäuchigen zuvorkommend, halblaut und lässig aus seinem Sessel heraus in eine von der Natur erzwungene Atempause in Lisas enthusiastischem Vortrag hin, gerade vernehmlich genug um die Referentin zu seinem persönlichen Vergnügen merklich zu irritieren und aus dem Gleis zu werfen und deren Aufmerksamkeit in einen unangenehmen, weil ihren Redefluß hemmenden, Spagat zwischen Jannik, ihrem dünnhaarigen Adressaten einerseits, und ihm selbst, dem die Freude über den kleinen Coup allerdings nichts von seinen mürrischen Zügen genommen hat, andererseits zu zwingen. Sie streicht sich fahrig mit der Linken, da sie in der Rechten ein Champagnerglass hält, durch ihren dunklen Bubischopf, eine Geste, die denen die sie kennen, also allen hier im Raum, unmissverständlich andeutet, daß die Gute, indigniert und aus dem Konzept gebracht, nun zwei bis drei Sekunden brauchen wird um die durch den Einwand einstweilen verschlossene Schleuse in ihrem Redefluss umständlich wieder in die Höhe zu ziehen und die sich dahinter aufstauende Rede befreien und abfliessen lassen zu können. Der Jungbäuchige sieht die Lücke und will gerade anheben mit seiner gleich seinem blonden Haarschopf etwas schütteren Leidenschaft eine Bresche für die Moderne zu schlagen, als ihm von der geöffneten Balkontüre aus, schneidig und unbekümmert, Doktor Franz Blaubauer, weltmännisch und wie stets im perfekten Dreiteiler einer knapp vergangenen Mode gekleidet, wiederum zuvorkommt, indem er, den Arm samt dem an seinem Ende befindlichen Glas Saint Emilion ausstreckend, deklamiert: "´Viele Jahre später sollte der Oberst Aureliano Buendia sich vor dem Erschiessungskommando an jenen fernen Nachmittag erinnern, an dem sein Vater ihn mitnahm, um das Eis kennen zu lernen.` Ist das ein Satz! Ein Satz wie ein Aufschlag beim Tennis," sagt er und breitet, wie immer etwas theatralisch, beide Hände ins Zimmer aus, "ein Satz, zielgenau und unmittelbar mit Karacho ins Feld des Lesers gesetzt und wenn der bis dahin döste, ist er nun hellwach, wie von einem Lappen mit kaltem Wasser oder einem Beutel mit dem Eis, daß der Oberst im Folgenden erst kennenlernen soll. Ja," spricht der Doktor und legt den Finger auf seinen sorgfältig gestutzten Oberlippenbart, "da laß den Proust doch lange liegen, früh schlafen und spät aufstehen und während der noch an seinem ewigen Weißdorn schnuppert, tobt hier ein ganzes Jahrhundert in seinem überschäumenden Element." Sprichts, verbeugt sich elegant zu Holger hin und grüßt mit seinem Glas. Der, mürrisch-zufrieden mit dem Erfolg seines Einwands, blickt unterdessen auf Jannik, Lisas junges Gegenüber, der sich, solcherart von Blaubauer um seinen Einsatz gebracht, gerade die übergrosse Rechtspfleger-Brille abnimmt und umständlich zu putzen beginnt.
Der Sheriff-Schütze aus den Lautsprechern fordert unterdessen, von dröhnendem Bässen unterlegt, seine Zuhörer mehrfach auf sich zu erheben und einer im Weiteren genauer beschriebenen Sache zu dienen, als sich aus dem wirbelnden Pulk der Tanzenden, mit anmutigem Schwung in den Hüften, die rote Mähne wild ums fein geschnittene Haupt mit den schmalen, edel geschwungenen Lippen wehend, Lisas Freundin und Herzensschwester Paula, genannt die Boa wegen ihrer immensen Beweglichkeit einerseits und ihrer unerschütterlichen Anhänglichkeit andererseits, löst und sich den Disputanten nähert. "Mein lieber Blaubauer," sagt sie, "mein lieber Holger, ich sehe euch wie immer unbeweglich sitzen und lehnen und nur Worte machen und auch ihr, Lisa und Jannik, steht starr wie unkluge Ansichten im Zimmer herum und lebt bloß literarisch. Ich darf euch indes, da ihr einstweilen bei Marquez angelangt seid, jenen katalanischen Weisen ins Gedächtnis rufen, für den alle Literatur nichts taugt, wenn sie nicht zur Erlangung eines neuen Küchenrezeptes dient und daran anschliessend ebenfalls daran erinnern, daß zu Lisas Fest- und Freudentag, der nun in wenigen Augenblicken anbrechen muß," sie deutet mit dem Finger in Richtung der Wanduhr, "einstweilen noch der kulinarische Haupt- und Kardinalsbeitrag fehlt, die Torte nämlich, die zu präsentieren ich jetzt die Ehre habe." Mit der nämlichen Anmut mit der sie sich genähert hat, dreht sich die Boa leicht zur Seite und weist mit der Rechten zur Türe ins Nebenzimmer, die sich nun, da die Wanduhr gerade zwölfe schlägt, öffnet und den Blick freigibt auf zwei orientalisch in Schleier gehüllte Nymphen, bei denen es sich unweigerlich um die Zwillingsschwestern Lara und Sybille handeln muß, die sich soeben anschicken, eine gewaltige Sahnetorte, verziert mit einem flötespielenden jugendlichen Satyren, gemeinsam unter allseitigem Applaus ins Zimmer zu tragen. Ein aufmerksamer Zeitgenosse hat sich unterdessen an der Stereoanlage zu schaffen gemacht, so daß zum Anschnitt passenderweise aus den Lautsprechern in französischer Sprache die Absicht ertönt, hinieden nichts und wieder nichts bereuen zu wollen.
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