Ich liebe es, von dort hinauszugleiten in meinem schnellen Wagen, abends, erfüllt von vitaler Kraft und voller Lust an der Bewegung mit offenem Verdeck zu fahren, den Wind in meinen Haaren und die gebändigte Gewalt des Motors zu spüren, seine Vibration, und einzutauchen in den Blutstrom der Stadt, ihre Macht und ihre Dynamik zu fühlen, ihrem Drängen zu folgen durch das Netzwerk der Straßen, die Blicke der Passanten, Männer und Frauen, wie ein Prickeln auf meiner Haut, zu spüren, wie hinter den Scheiben der neben mir stehenden Wagen und hinter den Visieren von im Abendlicht glänzenden Helmen alle Augen auf mich gerichtet sind, wenn ich an einer Ampel halte. Mich in den Scheiben spiegelnd sehe ich mich selbst, fühle die Wärme meines Körpers und geniesse es, ein Teil dieses lebendigen Ganzen zu sein.
Seht, das ist Esther!
Esther ist groß, Esther ist schön. Weich und duftig fallen ihre tiefschwarzen Locken über ihr dezent, aber raffiniert geschnittenes, anthrazit-graues Kammgarn-Geschäftskostüm, weich umschmiegen Jacket und Rock ihre schlanke, sportliche Figur und wenn sie morgens mit energischem und selbstbewusstem Schritt, auf dem Weg in ihr Büro, die Verwaltungsetage von Parthen & Cie durchquert, folgen ihr, wie magnetisch angezogen, die Blicke der dort am Schreibtisch Tätigen und alle denken unisono: Das ist unsere Esther, unsere Esther ist schön!
Hier zum Beispiel, dieser junge Mann mit Namen Roland, denkt so und es braucht keine seherischen Fähigkeiten, um sich vorzustellen, was hinter seiner Stirne, wo er sich eigentlich mit voller Konzentration mit der Planung und Zeichnung der Parthen & Cieschen Projekte beschäftigen soll, so alles vor sich geht, wenn, ohne sein eigenes Zutun, sein Kopf sich des Morgens hebt und seine Blicke über die Kante seines 21-Zöllers hinweg wandern und Esther folgen und träumerisch werden, hinter seiner rahmenlosen, superentspiegelten Rodenstock-Brille, wenn seine Nase ihrem feinen Duft nachwittert, der noch eine ganze Zeitlang in der Luft hängt, nachdem Esther schon längst an ihm vorbei und in ihrem Büro angekommen ist. Jeden Morgen freut er sich auf jene kurzen, bald darauf folgenden, köstlichen Momente dort drin an ihrer Seite, ganz in ihrer Nähe, nah bei Esther, die er doch niemals wagt, Esther zu nennen, sondern immer nur Frau Parthen, wie das Parthen & Cie mit dem sachlichen, schnörkellosen Schriftzug auf den Formularen und Notizzetteln auf seinem Schreibtisch, die er den lieben langen Tag vor Augen hat, immer nur Frau Parthen, die ihn immer nur Roland nennt, Roland und Sie, niemals Du und auch das niemals länger als nötig, für ein freundlich-bestimmtes, ungemein geradliniges und ebenfalls schnörkelloses Planer-und-Zeichnergespräch in ihrem Büro mit der gläsernen Front, durch die Roland Esther Montags bis Freitags arbeitstagelang vor sich sitzen sehen kann.
Setzen wir uns also ruhig ein wenig zu ihm hin, unauffällig und still, blicken über seine Schulter auf den Bildschirm seines PCs, wo ein Wirrwarr bunter Linien darauf wartet, von Roland zu einem montagefähigen Objekt geordnet zu werden und beobachten, wie von Zeit zu Zeit seine Blicke hin zu Esther wandern, die an einem makellosen, ebenfalls gläsernen Schreibtisch mit Beinen aus Edelstahl, selbstverständlich Edelstahl, aufs feinste verarbeitet von Parthen & Cie Metallbau, sitzt und dabei gleichzeitig energisch und gelassen wirkt, die langen Beine in einem Hauch von schwarzer Seide, die ebenso schwarze Bluse aus dem gleichen Material, nur, natürlich, sehr viel dichter gewebt, dabei sportlich geschnitten, mit eleganter Betonung der Hüften, das besagte Kammgarn-Jacket hinter ihr lässig über die Lehne ihres Eames-Stuhls hängend. Er sieht ihr zu, wie sie zunächst die in einer Plexiglas-Ablage mit der Aufschrift "Eingang" bereitgelegte Post durchsieht, Vermerke macht und Freigabezeichen setzt, ein rasches, prägnantes Zeichen, gebildert aus den miteinander verschmolzenen Buchstaben E und P, um sodann, in der Reihenfolge des vor ihr liegenden Tagesplaners, telefonisch Gespräche zu führen mit Kunden, Lieferanten, Interessenten, Ausstellern, Architekten und Designern, Treppenbauern, Schlossern, Küchenplanern und natürlich mit allen Abteilungen der Firma Parthen & Cie selber, von der Verwaltung bis zur Raumpflege und natürlich auch mit Roland selbst, der als einer der ganz wenigen in dieser Schar von Menschen das Privileg geniesst, ihr Stunde um Stunde beim telefonieren leibhaftig zusehen zu können.
Esther spricht: Ihr Blick ist konzentriert, doch niemals starr, ein leichtes Lächeln spielt meist um ihren Mund und wächst sich bei Gelegenheit zu einem feinen Lachen aus. Nur selten verschliessen sich die Lippen und werden schmal. Dann duckt sich Roland unwillkürlich ein wenig tiefer hinter seinen Schirm, um nicht aus Versehen von einem jener Blicke getroffen zu werden, die aus Esthers dunkler werdenden Augen schießen und ihn regelmässig gleichzeitig fröstelnd und rotglühendn machen, auch wenn er genau weiß, dass er natürlich gar nicht gemeint, ja vermutlich nicht einmal wahrgenommen worden ist. Aber glücklicherweise gilt im Metallbau, wie anderswo auch, dass sich mit schmal gezogenen Lippen kein vielversprechendes Gespräch führen läßt, wogegen heitere Gelassenheit und entspannte Züge beinah stets gewinnen, zumal im Umgang einer attraktiven Frau mit den in diesem Gewerbe vorherrschenden Herren der Schöpfung, die in aller Regel sowieso vermeiden, deren weiche, offene Züge und samtene Stimme wegen Geringfügigkeiten zu verhärten. Wie oft hat man schließlich, persönlich oder telefonisch, ein so angenehmes Gegenüber? So sitzt und strahlt also Esther hinter ihrem gläsernen Tisch, wirft ihre schwarzen Locken lässig zurück, zupft an den Ärmeln ihrer Bluse und dreht ihren Kugelschreiber in den Fingern, beugt sich nach vorn, um die Intensität des Gesprächs zu steigern, lehnt sich dann wieder zurück, um die Spannung etwas zu vermindern, blickt dabei immer wieder beiläufig auf eine filigrane Figur aus Olivenholz auf ihrem Schreibtisch, eine Eule mit sehr großen Augen, die, nebenbei bemerkt, ihr Lieblingstier ist, und zieht auf diese Weise Stunde um Stunde die Fäden, an denen sich das Geschick der Firma Parthen & Cie entlanghaspelt. Am meisten aber liebt es Roland, wenn sie, für gewöhnlich zwei- bis dreimal am Tag, nach einer Reihe von Gesprächen von ihrem Stuhl aufsteht und sich, von ihm aus gesehen im Profil, vor das große Panoramafenster stellt, die Hände auf das Fensterbrett gestützt, hinter ihr, in einer Ecke des Büros, das üppige Grün eines sorgfältig beschnittenen Baumes, dessen leicht gedrehter Stamm aus einem mächtigen Terrakotta-Topf emporwächst, ebenfalls eine Olive übrigens und neben der Eule der einzige Schmuck im ganzen Zimmer. Ihr Rücken ist gerade, der Blick nach vorn gerichtet, über das Wellblechdach der Werkstatt hinweg auf das Verwaltungshäuser-Meer des umliegenden Gewerbegebiets und sie wirkt versonnen und wach in Einem und in Rolands Planer und Zeichneraugen sieht sie, umrahmt von Stahlelementen, Glas und grünen Zweigen, aus, wie eine archaische Göttin inmitten einer Industriedesigner-Dekoration.
So sitzt und schaut und träumt der gute Mann also vor uns, auf seinem Stuhl. Ihm gegenüber sitzt und schaut, ebenfalls vor einem 21-Zöller sitzend, auch Katja, seine Assistentin, Katja übrigens mit kollegialem Du und auch ihre Blicke folgen aus beweglichen blauen Augen dem elastischen Gang ihrer Chefin nach, bevor sie dann wieder zurück an ihren Bildschirm wandern, aber sie träumt nicht, weil sie eine mit beiden Beinen in der Wirklichkeit stehende, nüchterne junge Frau ist, deren heitere, entspannten Züge den verträumt dasitzenden Roland Morgen für Morgen mit deutlicher Verlegenheit in die ebenso nüchterne Gegenwart zurückrufen, sobald sie ihm, geradeheraus, über die Kante ihres Schirms hinweg, in sein versunkenes Gesicht blickt. Ertappt wendet er sich dann rasch wieder seiner Arbeit zu, murmelt etwas unverständliches vor sich hin und verbirgt die in seinem Gesicht aufsteigende Röte hinter dem großen Rechteck mit 53cm Schutzdiagonale vor ihm auf dem Tisch.
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