Katja Pelzer - Greta und das Wunder von Gent

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Eine Handvoll poetischer Liebesbriefe eines Unbekannten und die Tagebücher ihrer Großtante Mia bringen Greta auf die Spur eines der spektakulärsten Kunstdiebstähle aller Zeiten. Dabei stellt sie fest, dass nichts so ist, wie es scheint. Und plötzlich steckt sie mittendrin im Abenteuer ihres Lebens.

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Katja Pelzer

Greta und das Wunder von Gent

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Inhaltsverzeichnis Titel Katja Pelzer Greta und das Wunder von Gent Dieses - фото 1

Inhaltsverzeichnis

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Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Drei Monate später

Impressum neobooks

Kapitel 1

Der Mann saß im Rollstuhl an einer sonnigen Ecke der Innenstadt und verkaufte die Obdachlosenzeitung. Greta hielt sich mit der einen Hand eine helle Haarsträhne aus dem Gesicht und holte mit der anderen ihr Portemonnaie aus der gemusterten Umhängetasche, die in Modekreisen Tote genannt wurde (ja, wie die Tote, aber englisch ausgesprochen), bezahlte die Zeitung und ließ ihm 40 Cent Trinkgeld. Sie hoffte, es würde ihn weder zum Trinken animieren noch zum Rauchen. Denn in seinem zahnlosen Mund steckte verloren ein Zigarettenstummel. Den nahm er jetzt heraus und küsste ihren Handrücken zum Dank für den Obolus. Diese Geste freute Greta, machte sie aber auch leicht verlegen. Sie winkte dem Mann noch einmal zu und setzte dann beschwingt den Weg in die Zeitungsredaktion fort, wo sie seit ein paar Jahren als Kulturredakteurin arbeitete.

Der Anruf erreichte sie am frühen Nachmittag. Der Tag war auch weiterhin freundlich und harmlos verlaufen, daher war sie auch überhaupt nicht auf das vorbereitet, was ihr die Pflegerin mitzuteilen hatte. Großtante Mia war gestorben. Ganz leise, im Schlaf.

Greta war ihr Liebling gewesen, die Großtante hatte selbst keine Kinder gehabt. Stolze 95 Jahre war sie alt geworden. Manchmal hatte sie der ebenfalls kinderlosen Greta erklärt, das hohe Alter habe sie allein der Tatsache zu verdanken, dass ihr all die Sorgen und der Verdruss erspart geblieben waren, die Elternschaft unweigerlich mit sich brachte. Greta lächelte unter Tränen, als sie an die Worte der Großtante dachte, in deren Augen immer kindliche Freude geblitzt hatte.

Das Leben um sie herum hielt nicht an, stellte Greta verwundert fest. Natürlich war es wichtig, welche Galerien sie am Eröffnungswochenende besuchen müsste, aber die meisten Sonntage der vergangenen Jahre hatte Greta am Kaffeetisch ihrer Großtante verbracht. Das war beiden von dem geblieben, was Familie sein konnte.

Sie hatte ihrer Großtante die Fingernägel geschnitten, die diese zuvor in warmem Seifenwasser gebadet hatte, um sie weicher zu machen. Sie wusch ihr die Wäsche und faltete sie, weil die Hände der Tante arthritisch geschwollen waren. Die Batterie im Hörgerät musste alle paar Wochen gewechselt werden. Mit hundert Strichen bürstete Greta durch die langen silberweißen Wellen der Großtante – ein Ritual, zu dem Mia als Mädchen übergegangen war und auf das sie bis zu ihrem Tod nicht verzichten mochte. Eine Gewohnheit, für die Greta ihre Tante immer bewundert hatte.

Sie ging mit ihrem Haar weniger pfleglich um. Als Kind hatte sie es so selten gebürstet, dass der Friseur eines Tages die entstandenen Knoten hatte abschneiden müssen. So musste Greta mit sieben Jahren einen Pottschnitt tragen, der bei ihr ein Friseur-Trauma hinterließ.

Während der Rituale mit Großtante Mia hatte der gefrorene Kirschkuchen zum Auftauen auf der Heizung gestanden. Greta hatte das kochende Wasser in den von Mia vorbereiteten Kaffeefilter fließen lassen. Sie hatte hier ein wenig gesaugt, dort ein wenig geputzt. Aber nur ein wenig, denn eigentlich hatte Tante Mia eine Hilfe – eine hübsche polnische Studentin, die sich auf diese Weise das Geld fürs Studium verdiente. Greta hatte Mia meistens etwas zum Lesen mitgebracht, denn die Großtante verschlang Bücher wie andere Schokolade. Wenn sie schließlich am Kaffeetisch saßen, hatten sie sich immer etwas zu erzählen gehabt und viel gelacht.

Wieder ein Abschied. Zu viele hatte es schon gegeben in Gretas Leben. Dabei hasste sie Abschiede. Sie war jetzt die Letzte – ihre Großmutter Lisabeth, Mias Schwester, und der Großvater lebten schon lange nicht mehr. Die Eltern ihrer Mutter waren ebenfalls tot. Gretas Eltern waren beide Einzelkinder gewesen und selbst schon vor einigen Jahren gestorben. Nur Nick gab es noch – Gretas Bruder. Doch der zählte nicht. Er hatte sich noch nie für irgendjemanden außer sich selbst interessiert. Außerdem lebte er mittlerweile in London und war einer dieser Menschen, die davon profitieren, dass sie Firmen an die Börse bringen. Darin war er scheinbar sehr gut. Für andere Dinge, vor allem andere Menschen, nahm er sich kaum noch Zeit.

Gleich am nächsten Morgen würde Greta zur Beerdigung ins Bergische Land fahren. Dort hatte die Großtante mit dem Großonkel gelebt, bis zu dessen Tod.

Greta delegierte die Aufgaben der nächsten Tage an verschiedene freie Mitarbeiter, strickte mit heißer Nadel drei Artikel für die Wochenendausgabe, die sie außerdem soweit vorplante wie möglich, und verließ erst spät am Abend die Redaktion. Zu Hause kochte sie sich ein schnelles Pasta-Gericht, packte ihren Koffer und las noch ein paar Seiten in Priscilla von Nicolas Shakespeare, um sich etwas abzulenken und um herunterzukommen – ein Buch, das sie Tante Mia hatte ausleihen wollen. Früh fielen ihr die Augen zu.

Die Trauerfeier war spärlich besucht. Gretas Herz hatte zunächst schneller geklopft, als sie auf dem Weg dorthin das gelbe Ortsschild erblickte. Doch dann hatte die Trauer über den Tod der geliebten Großtante sie überwältigt. Greta hatte sich nicht einmal richtig von ihr verabschiedet. Wer so alt wurde wie Mia, nahm sich nicht unbedingt die Zeit, um Adieu zu sagen. Es hatte jeden Tag so weit sein können. Und doch kam es plötzlich.

In der kleinen Kirche saßen einige Gemeindemitglieder und ein paar ältere Frauen. Greta vermutete, dass sie Bekannte ihrer Großtante waren. Beide Pflegerinnen waren gekommen, die die Großtante in den letzten zehn Jahren ihres Lebens begleitet hatten und ihr sehr gewogen gewesen waren. Das wurde Greta noch einmal bewusst, als sie ihr nach dem Gottesdienst ihr Beileid aussprachen.

Nach der Urnenbeisetzung kam eine ältere Dame in einem eleganten schwarzen Kostüm und mit einem breitkrempigen Hut auf Greta zu. Der Hut war so groß, dass er einen Schatten auf ihre obere Gesichtshälfte warf. Dennoch kam Greta die Frau irgendwie bekannt vor. Vielleicht waren sie sich auf einem der vielen Geburtstage der Großtante begegnet. Greta fühlte sich von ihrem Schmerz wie gedämpft, ihre Gedanken waren zu langsam, um eine Fährte aufzunehmen. Die Dame sagte kein Wort. Sie drückte Gretas Hand und schaute sie aus dunklen Augen einen Moment länger an, als Greta lieb war. Sie spürte, wie ihr die Tränen kamen, und sie wandte sich ab. Als sie sich wieder umdrehte, bereit, weitere Hände zu schütteln, war die Frau verschwunden.

Nick war nicht gekommen. Aber damit hatte Greta auch nicht gerechnet.

Es war ihr unheimlich, in der Wohnung der Großtante zu übernachten. Sie fürchtete sich vor ihren Emotionen. Also nahm sie sich ein Zimmer in einer kleinen Frühstückspension, die von einer netten älteren Frau geführt wurde, bei deren Anblick Greta beinahe wieder in Tränen ausgebrochen wäre, weil sie die gleichen silbergrauen Fönwellen hatte wie die Großtante.

Sie fragte sich zum wiederholten Male, wie viel Trauer ein einzelner Mensch ertragen konnte, bevor die Seele zerkratzt war.

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