Alexander Kent
Donner unter der Kimm
Admiral Bolitho und das Tribunal von Malta
Es war ungewöhnlich kalt für Mitte September, und die gepflasterten Straßen von Portsmouth schimmerten vom Regen der vergangenen Nacht wie Metall.
Vizeadmiral Sir Richard Bolitho hielt an einer Ecke inne und starrte zurück zum George Inn, in dem er die beiden Tage seit seinem Eintreffen aus Falmouth verbracht hatte. Dort stand auch der alte Blue Posts Inn, eine Erinnerung an längst vergangene Zeiten, als er, ein bescheidener Midship-man, {Kadett bzw. Fähnrich: Offiziersanwärter} auf Fahrt gegangen war.
Er seufzte und wandte sich seinem Begleiter zu, der auf ihn wartete; als sie um die Ecke gingen, spürte Bolitho den kalten Wind vom Solent wie eine Herausforderung.
Es war Morgen, aber die Straßen waren praktisch menschenleer, denn man schrieb 1803, und den labilen Frieden hatte im Mai die erste Breitseite hinweggefegt. Angst vor den gefürchteten Preßpatrouillen bewirkte, daß sich kein junger Mann auf den Straßen herumtrieb; Bolitho dachte daran, wie sich die Lektionen wiederholten. Er sah, daß sein Neffe ihn mit besorgtem Blick beobachtete, und entsann sich einer Bemerkung an diesem Vormittag im George Inn, als er mit Adam über einer letzten Tasse Kaffee gesessen hatte. Gemacht hatte sie ein Reisender, der die beiden Seeoffiziere im Gespräch beobachtete und anschließend bekannte, daß er sie ursprünglich für Brüder gehalten hätte.
Bolitho wandte sich seinem Neffen zu und haßte den Augenblick des Abschieds, wußte aber zugleich, daß es egoistisch war, Adam noch länger aufzuhalten. Adam Bo-litho war dreiundzwanzig und hatte sich in den Augen seines Onkels seit dem Tag, an dem er als Midshipman auf sein Schiff gekommen war, kaum verändert.
Einen Unterschied gab es jedoch. Adam hatte Gefahr und Schmerzen durchgestanden, manchmal an seiner Seite, manchmal anderswo. Sein Mund und sein festes Kinn verrieten, daß er viel daraus gelernt hatte, und die goldene Epaulette auf seiner linken Schulter sagte den Rest. Er war mit dreiundzwanzig Jahren Kapitän, nun sogar auf seinem eigenen Schiff. Die kleine Brigg Firefly lag jenseits der Hafenmauer, verloren auf der weiten Reede mit ihren Kriegs — schiffen, Truppentransportern und der ganzen Geschäftigkeit eines Marinehafens im Krieg.
Bolitho schaute ihn wohlmeinend an.»Dein Vater wäre heute stolz auf dich«, sagte er.
Adam starrte ihn halb besorgt, halb erfreut an.»Das war sehr großmütig von dir. Wie kann ich dir nur danken?»
Bolitho zupfte an seinem goldbestickten Hut, um seine Verlegenheit zu überspielen.»Mein Lohn, wenn ich ihn überhaupt suchte, wäre die Tatsache, daß du im Begriff bist, mit deinem eigenen Schiff in See zu stechen. «Ungestüm ergriff er Adams Arm.»Du wirst mir fehlen.»
Adam lächelte, doch seine Augen blieben traurig.»Kam dir eben eine Erinnerung, Onkel?»
«Aye. «Sie fielen wieder in Gleichschritt, und Bolitho versuchte, sich die Niedergeschlagenheit, die seit Falmouth sein Schatten gewesen war, nicht anmerken zu lassen. War dies nun das letzte Mal? Der Anlaß für seine Unruhe? Würde er wie so viele andere auf einem zerfetzten, blutigen Deck enden und nie hierher zurückkehren?
«Er hielt uns für Brüder«, sagte Adam.»Ich faßte das als Kompliment auf.»
Als er lachte, sah Bolitho in ihm wieder den Midshipman.
Er zog seinen Umhang zurecht. Auch ihn erwartete ein Schiff, sein Flaggschiff. Vielleicht würde die Last der Verantwortung, die seine Befehle mit sich brachten, seine Zweifel zerstreuen, sie so weit achteraus zurücklassen wie das Land. Draußen wartete sein Geschwader auf ihn. Zum Glück war es ihm gelungen, Valentine Keen als Flaggkapitän zu behalten. Aber sonst werde ich diesmal nicht viele vertraute Gesichter sehen, dachte er.
Der Frieden von Amiens hatte zwar nur ein knappes Jahr gedauert, doch während dieses Zeitraums hatten es die Seelords und eine selbstgefällige Regierung für richtig gehalten, die Flotte unsinnig zu demobilisieren. Sechzig von hundert Linienschiffen waren außer Dienst gestellt, vierzigtausend Matrosen und Seesoldaten an Land geworfen. Bolitho war zu seinem Glück im Dienst geblieben. Seltsam, daß sein letztes Flaggschiff, die Achates, die erste richtige Schlacht nach dem Frieden geschlagen und wider Erwarten gewonnen hatte; und das zu einem Zeitpunkt, da die Kriegsmarine einer Siegesnachricht dringend bedurfte. Eine weitere Laune des Schicksals war die Tatsache, daß Argonaute, das Schiff des französischen Admirals, das sie nach einem der heftigsten Nahgefechte, deren sich Bolitho entsinnen konnte, aufgebracht hatten, nun kurz davorstand, am Vormast seine Flagge zu tragen. Achates war ein altes Schiff gewesen und würde nun viele Monate in der Werft bleiben. Von den früheren Gefechten in der Karibik hatte sie sich nie so recht erholt. Argonaute dagegen war vergleichsweise neu und auf ihrer Jungfernfahrt gewesen, als sie von ihnen zur Kapitulation gezwungen worden war.
Er fragte sich vage, ob erbeutete Schiffe etwas gegen ihre neuen Herren und ehemaligen Feinde hatten. Er war einmal Flaggkapitän auf einer Prise gewesen, konnte sich jedoch an seltsame Vorkommnisse dort nicht entsinnen.
Er hatte ohnehin keine andere Wahl. Jedes Schiff, jeder erfahrene Seemann wurde gebraucht, denn während England seine Kraft erlahmen ließ, hatte der alte Feind jenseits des Kanals aufgerüstet. Neue Schiffe, eifrige junge Kapitäne und eine riesige, auf Sieg erpichte Armee zeichneten ein düsteres Bild für Englands Zukunft.
Einige Seesoldaten, die an der Hafenmauer Schutz gesucht hatten, nahmen Haltung an, als sich die beiden Offiziere näherten.
Auch Allday würde ihm fehlen, dachte Bolitho. Diesmal sollte Hogg, Keens Bootsführer, mit der Barkasse an den Stufen warten. Allday hatte Urlaub erbeten, um jemanden zu besuchen. Das war an sich schon merkwürdig. Denn Allday bat sonst nie um Vergünstigungen oder sprach über Privatangelegenheiten, und Bolitho fragte sich, ob er wohl sein Angebot annehmen werde, an Land zu bleiben. Abgesehen von einem kurzen Zwischenspiel als Schäfer war Allday sein ganzes Leben auf See gewesen und hatte sich seinen Abschied von der Marine tausendmal verdient. Und auf der Achates hatte sein Leben fast ein Ende gefunden. Bolitho dachte oft an den Tag, an dem sein Bootsführer einen Säbelhieb in die Brust erhalten hatte, der ihn eigentlich auf der Stelle hätte töten müssen. Nun war er zwar auf seine heitere, unverwüstliche Art der Alte, doch man merkte ihm die Wunde an. Aufrechtes Gehen fiel ihm schwer, und Bolitho wußte genau, wie sehr das seinen Stolz verletzte. Oft hatte man Allday mit einer Eiche oder einem treuen Hund verglichen. Doch Allday war nichts dergleichen, sondern ein Freund, auf den er sich verlassen konnte, der Bolitho besser kannte als jeder andere.
Sie kamen an die Stufen, und Bolitho erblickte unter sich die schaukelnde Barkasse. Hogg und ein junger Leutnant warteten mit erhobenen Gesichtern barhäuptig im Boot. Die hochgestellten Riemen bildeten zwei perfekte weiße Linien, die geteerten Hüte und karierten Hemden der Mannschaft verrieten deutlich, was Keen bereits aus der Besatzung gemacht hatte.
Vermutlich beobachtete Keen ihn nun durch sein Fernrohr, neben sich Bolithos neuen Flaggleutnant Hector Stayt. Die Väter von Stayt und Bolitho, beide aus Cornwall, hatten zusammen gedient. Stayt kam mit guten Empfehlungen, sah aber eher wie ein Abenteurer aus als wie jemand, der diplomatisch zwischen Admiral und Untergebenen vermitteln sollte.
Tausend Sorgen und mögliche Irrtümer gingen Bolitho durch den Sinn, doch sein Gesicht war gefaßt, als er sich zum letzten Mal seinem Neffen zuwandte. Aus dem Augenwinkel hatte er gesehen, daß Adams kleine Gig von ihrer Crew, die den jungen Kommandanten schon erwartete, klargehalten wurde.
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