Somit wurde ich tatsächlich gezwungen, während unserer Reise in Campingwagen, Zelten, Jugendherbergen und Schlafcontainern zu übernachten und mich mit dem billigsten Fastfood zu mästen, das in den billigsten Supermärkten nach Überschreiten der Verfallsdaten zu herabgesetzten Preisen verschleudert wurde. Ich musste fast alle Besichtigungen der Sehenswürdigkeiten in den Städten, die wir heimsuchten, zu Fuß machen, oder mich bei größeren Entfernungen in überfüllte Straßenbahnen, Zugabteile oder Omnibusse quetschen. Dabei hatte sie mir empfohlen, mir einen Rucksack zuzulegen, damit ich immer meine zwei Liter Wasser mit mir herumtragen könne, um nicht auszutrocknen.
Besuche bei prominenten Verwandten oder Freunden, die ansonsten zu meinen Reisehighlights gehörten, langweilten sie und ödeten sie an, aber Aufenthalte in den billigsten Kneipen mit der lautesten Musik, dem ordinärsten Bier und den mumifiziertesten Bouletten machten sie an. Auch kostenlose Weinproben oder Proben von Schmalzgebäck oder Proben von Würsten und Schinken, von Paella und Chili con Carne, die zum kostenlosen Probieren auf irgendwelchen Theken lagen, zogen sie unwiderstehlich an.
Dabei konnte es häufig passieren, dass sie völlig gesättigt war, wenn wir einen großen Supermarkt von vorn bis hinten und von unten bis oben abgegrast hatten. Ich hielt mich am Anfang noch vornehm mit der Probiererei zurück, musste aber schließlich aus Hunger und Durst wohl oder übel mitmachen, wenn mir diese Art der Verköstigung auch nicht den geringsten Genuss bereitete und furchtbar auf den Magen schlug.
In unserer Zeltlodge am Amazonas bekam ich durch den Genuss des Wassers, das sie im Haupthaus aus dem Wasserhahn in meine zwei leer getrunkenen Wasserflaschen gefüllt hatte und das sie gut vertragen konnte, einen solchen Durchfall, dass mein Anus vom ununterbrochenen Gebrauch des Klopapiers ganz blutig geworden war.
Jetzt pflegte mich Carlotta aber so hingebungsvoll, besorgte mir Kamillentee, Zwieback und erstklassiges Wasser, dass ich schnell wieder auf die Beine kam und ihr auch nicht böse sein konnte. Sie cremte auch jeden der achtzig Insektenstiche, die ich mir in unserer verbilligten Zeltlodge geholt hatte, mit einer den Juckreiz mildernden Salbe ein und bot mir nach dieser ‚seriösen Intimität’ freundlicherweise das ‚Du’ an, weil eine solche Körperpflege unter Fremden, die sich ‚siezten’, doch eher unüblich sei.
Die andere Konfliktstruktur hatte mit unserem sozialen Status zu tun. Ich war in materiellem Überfluss aufgewachsen und hatte kein Auge für soziale Missstände und materielle Not. Zwar unterhielt mein Vater einen karitativen Mittagstisch für die Armen unserer Umgebung, aber diese Armenspeisung hatte er nicht selbst eingerichtet, sondern als traditionelle Einrichtung unserer Vorfahren übernommen.
Er hätte sie, was seine soziale Einstellung betraf, gerne abgeschafft, aber da meine Altvorderen ein solches Vorhaben vorhergesehen hatten, so hatten sie diesen sozialen Mittagstisch mit einer potentiellen Stiftung verbunden, die in dem Augenblick den Fortbestand des Mittagstisches sichern sollte, falls einer ihrer Nachkommen ihn abschaffen wollte. In diesem Fall sollten die Einnahmen aus mehreren Immobilien für die Aufrechterhaltung der Armenspeisungen verwendet werden und diese Immobilien aus dem privaten Besitz entflochten und einer öffentlichen Stiftung zugeführt werden. Da die Immobilien erheblich mehr einbrachten, als für die Aufrechterhaltung der sozialen Einrichtung nötig war, und zudem die Qualität der Speisen nicht festgelegt war, hatte keiner meiner Vorfahren die Dummheit besessen, daran zu rühren. Nachdem der Besitz meiner Mutter mit dem Besitz meines Vaters vereinigt worden war, lieferte diese soziale Einrichtung auch ein kleines Alibi für den scheinbar überbordenden Reichtum der Familie.
Kurz, ich war im Hinblick auf soziale Probleme ein völlig unterbelichtetes Negativ. Ich kannte kein soziales Mitgefühl für die Not anderer Menschen, ich kannte keine soziale Verantwortung für die mir anvertrauten Angestellten oder Schutzbefohlenen. Ich kannte nur mein egoistisches Interesse an einem Luxusleben mit den entsprechenden kostenintensiven Vergnügungen. Tausend Mark waren für mich das übliche Taschengeld, das ich für irgendwelche überflüssigen Genüsse oder Einkäufe täglich auszugeben gewöhnt war, und bei diesen Ausgaben war kein Pfennig, den ich einem am Wege hockenden Bettler geschenkt hätte.
Ich bewegte mich natürlich auch nicht in Gebieten und mit Menschen, die nicht im Überfluss schwammen, sondern bevorzugte als häufigste Gesellschaft einseitig meine Adelskaste oder Finanzhaie, die noch viel reicher zu sein vorgaben (und es häufig auch waren), als ich es zu sein schien.
Carlotta dagegen war in kleinen Verhältnissen aufgewachsen. Ihre Eltern lebten beständig an der Armutsgrenze und mussten allerhand Erfindungsreichtum aufbringen, um durch nebenamtliche Tätigkeiten sich einige zusätzliche Einnahmen zu verschaffen. Carlottas Vater arbeitete nachts häufig als Taxifahrer und ihre Mutter hatte sich als Putzfrau in ihrer Schule verdingt, so dass sie doch gelegentlich etwas mehr Geld hatten, als zum puren Lebensunterhalt nötig war, so dass für Carlotta ein Klavier gekauft werden konnte und die Bezahlung ihrer Klavierstunden gesichert war.
Ich hatte Carlottas Eltern angerufen und ihnen unser Vorhaben mitgeteilt. Ich hatte auf den großen Kunstliebhaber, Kunstmäzen und Kinderbeschützer ‚gemacht’, also ihnen zu verdeutlichen versucht, dass es für ein 15jähriges Mädchen – auch von der Burschikosität Carlottas – ziemlich gefährlich sei, sich ohne männlichen Schutz im fremden Land herumzutreiben, und hatte ihnen versichert, dass ich mit meinem Namen dafür hafte, dass Carlotta bei mir sicher, in guter Hut sei.
Die Eltern, die meinen schlechten Ruf offenbar kannten, wollten zunächst Einwände machen, aber nachdem ich ihnen erklärt hatte, dass ich sie wohl nicht angerufen hätte, wenn ich schlechte Absichten hätte, und dass bei dem Interesse der Medien es für sie ein Leichtes sei, mich in der ganzen Welt zu einer Unperson zu machen, wenn sie irgendwelche Übergriffe meinerseits, die Carlotta ihnen mitteilen würde, an die Presse weitergäben, legten sich ihre Bedenken. Mit dieser Argumentation und nachdem ihnen Carlotta die drei Bedingungen durchgegeben hatte, die die Grundlage unserer Reisegemeinschaft waren, beruhigten sich die Eltern und gaben mir ‚grünes Licht’.
Indem ich – auch auf Carlottas Drängen hin – Kontakt zu ihren Eltern aufgenommen hatte, war für mich der erste Schritt getan, um vermehrten Umgang mit Gesellschaftsschichten zu finden, die ich bisher gemieden hatte. Schon die Besichtigungsrouten an unseren Zielorten, die –wie gesagt – von Carlotta nach Maßgabe der billigsten Verbindung ausgesucht wurden, führten mich durch Gegenden und in Gesellschaften, die für mich bisher terra incognita, unbekanntes Land, gewesen waren. Sie hatte einen besonderen Blick für vernachlässigte Kinder und benutzte mich, der ich mir einige Portugiesisch-Kenntnisse angeeignet hatte, als Dolmetscher, um mit diesen Kindern ins Gespräch zu kommen.
Ein Mädchen von fünf oder sechs Jahren, das einen halb verhungerten Eindruck machte und auf der hinteren Plattform des Busses, mit dem wir zum Opernhaus in Manaus fuhren, lag und bettelnd seine Hände nach uns ausstreckte, musste ich nach seinen Eltern und seinem Zuhause fragen.
Als wir hörten, dass das Kind, immer wenn seine Mutter Besuch von fremden Onkels hatte, weggeschickt wurde, um zu betteln und tage- und nächtelang nicht nach Haus kommen sollte, bis es die Summe von 10 Cruzeiros zusammenhätte, gab Carlotta ihr das Geld und entschloss sich auf der Stelle, das Kind nach Hause zu begleiten.
Ich versuchte Carlotta diesen Entschluss auszureden und versprach ihr, noch hundert Cruzeiros auf die milde Gabe draufzulegen, wenn sie von ihrem Vorhaben ablasse; aber Carlotta sagte, wir könnten uns nicht von der Verantwortung für dieses Kind durch irgendwelche läppischen Almosen loskaufen, die dem Kind übrigens nach der nächsten Haltestelle wieder abgenommen würden, sondern müssten uns überzeugen, ob die häuslichen Verhältnisse des Mädchens mit unserer Hilfe so geändert werden könnten, dass es eine Chance habe, gesund aufzuwachsen. Ansonsten müssten wir die Sozialbehörden von Manaus benachrichtigen und darauf dringen, dass das Kind in einer sozialen Einrichtung untergebracht werde.
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